WIR WOLLEN EINE BERUFUNG HERAUSFINDEN

25. September 2018 / Im Gespräch

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Constantin Weimar
hat selbst erfahren, wie anstrengend die Suche nach der eigenen Berufung sein kann. Er wurde nach 14 Jahren als Geschäftsführer einer Werbeagentur in seinem Job zunehmend unzufriedener und machte sich auf die Suche nach seinem Traumjob. Dabei fand er heraus, dass er gerne junge Menschen unterstützt, gut beraten und motivieren kann und gerne selbstständig arbeiten möchte. Das setzte er in die Tat um und bildete sich zum Coach weiter. Heute arbeitet er mit großer Begeisterung als Jugendcoach für Einzelpersonen, Schulklassen und Gruppen und hilft Jugendlichen, ihre Grenzen zu erweitern, einen Job zu finden, der ihnen Spaß macht, und ein Unternehmen, das gut zu ihnen passt.
www.constantinweimar.de


radius/30: Ihre Hauptaufgabe als Coach ist es, Jugendliche in ihrer Berufsfindung zu unterstützen. Wie machen Sie das genau?
Constantin Weimar: Eines gleich vorab: Berufsfindung ist bei mir Persönlichkeitsfindung. Ich möchte einem Jugendlichen nicht Berufe präsentieren und ihn dann so verändern, dass er zu diesem Berufsbild passt. Ich gehe von der anderen Seite heran und frage den Jugendlichen: Wer bist du und was passt zu dir? Was wir herausfinden wollen, ist nicht ein Beruf, sondern eine Berufung. Die Antwort auf die Fragen: Wozu bin ich da, was habe ich zu geben und wie lässt sich damit Geld verdienen? Das sind auch die Fragen, die ich in meinen Coachings stelle. Ich wende keine Computertests an, weil ich glaube, dass die ohnehin nicht sehr aussagekräftig sind. Stattdessen arbeite ich mit biografischen Methoden. Eine Frage meines Coachings lautet deshalb zum Beispiel auch: In welchen Momenten hast du Freude empfunden? Denn eine Berufung zu finden, bedeutet, der Freude zu folgen. Weitere Fragen, um herauszufinden, was den Jugendlichen Freude macht, sind zum Beispiel: An welchen Gesprächen beteiligst du dich gerne? Was sind die Themen, bei denen du hellhörig wirst, eine Meinung hast und mitreden möchtest? Wenn du abends Serien schaust – welche schaust du am liebsten und weshalb? Wenn du etwas mit Freunden unternimmst – was macht ihr am liebsten? Was fasst du gerne an – Holz, Metall, Stoff?

Wie alt sind die Jugendlichen überwiegend? Bedarf es nicht schon eines gewissen Maßes an Selbstreflexion, um solche Fragen beantworten zu können?
Die Jugendlichen sind meist zwischen 15 und 21 Jahren – ab der 8. Klasse geht es von den Schulen aus in die „Berufsfindung“. Eigentlich ist das zu früh. Die Jugendlichen sind für eine finale Berufsentscheidung noch viel zu unerfahren. Zu diesem Zeitpunkt wären Praktika als „Schnupperphase“ viel angemessener. Selbstreflexion ist deshalb weniger entscheidend – durch die richtige Fragetechnik meinerseits verstehen die Jugendlichen recht schnell, was ich von ihnen möchte. Eine Frage kann beispielsweise lauten: „Was sind deine Hobbys?“ Wenn mein Gegenüber dann antwortet: „Ich spiele gerne Fußball“, frage ich weiter: „Auf welcher Position spielst du am liebsten?“ – „Mittelfeld“ – „Warum?“ – „Weil ich gerne das Spiel beeinflusse.“ Solche Antworten geben mir Auskunft über das, was dem Jugendlichen Spaß macht. Es gibt ja einen Grund, dass jemand besonders gerne im Mittelfeld spielt oder Stürmer oder Torwart wird. Eine weitere Methode neben der Fragetechnik ist die Traumreise in die Vergangenheit. Wir reisen zurück und schauen, was die Jugendlichen mit 5, mit 7 oder mit 9 Jahren gerne erforscht, gebaut, gespielt oder gebastelt haben. Daraus entsteht eine Liste mit Tätigkeiten, die die Jugendlichen gerne machen.

Wie können wir uns das weitere Coaching vorstellen?
Wenn wir herausgefunden haben, was den Jugendlichen Spaß macht, folgt der nächste Schritt, bei dem wir uns fragen: Was musst du können, um diese Tätigkeiten, auszuführen? Daraus entsteht eine Liste mit Stärken, auf die sich die Jugendlichen berufen können, denn es sind nicht nur irgendwelche Adjektive, sondern ihre persönliche Referenzen. Dann wird überlegt, wie die Arbeitsumgebung sein soll: förmlich oder locker, wie möchte ich bei der Arbeit gekleidet sein, soll das Unternehmen groß oder klein, die Hierarchien streng oder flach, die Arbeitszeit actionreich oder ruhig sein?

Aus den drei Listen – den Tätigkeiten, den Stärken und der Arbeitsumgebung – erfassen wir die 10 wichtigsten Kriterien zu einem Traumjob-Kompass. Dieser Kompass ist ein mächtiges Werkzeug. Man kann ihn Eltern und Familie zeigen, wenn sie mit der Frage nerven: Was willst du werden? Plötzlich haben die Jugendlichen auch eine handfeste Begründung, wenn sie einen Job ablehnen, in dem die Eltern sie sehen. Im nächsten Schritt wird überlegt, für welche Tätigkeiten Menschen bereit sind, Geld zu bezahlen. Dazu müssen die Jugendlichen nicht einzelne Berufsbilder im Detail kennen. Sie können überlegen, wie sie mit ihren Lieblingstätigkeiten anderen Menschen das Leben leichter, angenehmer oder fröhlicher machen können.

Gerne baue ich auch Spiele ein – auch wenn sie es nicht zugeben: Jugendliche spielen gerne. Am liebsten, wenn es etwas zu gewinnen gibt. Das kann auch eine Tafel Schokolade sein, aber so ein „Battle“, ein Wettbewerb, entfacht meist den Ehrgeiz. Beim Spiel „Raus aus der (Berufe-)Box finden die Jugendlichen in kleinen Gruppen Möglichkeiten, mit einem bestimmten Beruf Geld zu verdienen. Beispielsweise kann ein Physiotherapeut eine eigene Praxis aufmachen.
Er kann aber auch eine Fußballmannschaft im Profisport behandeln oder auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten. Danach folgt das „Braingoogeln“ – die Jugendlichen werden selbst zu Coaches und sollen sich gegenseitig inspirieren, indem immer drei Jugendliche einem Vierten Vorschläge machen, was zu seinem Traumjob-Kompass passen würde. Oft kommen über 70 Berufsideen zusammen. Davon werden wiederum 5 ausgesucht.

Was ist für Sie die Grundlage bei der Arbeit mit den Jugendlichen?
Ganz wichtig ist für mich, Jugendlichen zuzuhören, sie ernst zu nehmen und ihnen die Wahl zu lassen. Ein Junge sagte zu mir, er wolle Game Tester werden. Ich fragte ihn, ob er wisse, was ein Gametester mache? Dass der Spiele antestet und dann Berichte darüber schreibt? Das wisse er, er wolle es dennoch werden. Also bat ich ihn, mir bis zum nächsten Tag ein Spiel zu testen und eine halbe Seite darüber zu schreiben. Am nächsten Tag war der Berufswunsch passé. Es ist deutlich effektiver, wenn die Jugendlichen ernst genommen werden und sich selbst ausprobieren können – also die Wahl haben –, als wenn man erklärt und versucht zu überzeugen.

Ihre Coachings gehen meist über drei Tage – wie geht es an den beiden folgenden Tagen weiter?
Am zweiten Tag geht es ums Handeln. Wenn wir etwas wollen, brauchen wir dafür eine starke Antwort auf die Frage nach dem Warum. Deshalb fragen wir, was uns vom Handeln abhält. Angst vor Absagen, Ablehnung oder Fehlern? Und dann mache ich den Jugendlichen bewusst, dass wir alle Angst haben vor etwas, das wir zum ersten Mal machen. Als wir das erste Mal ohne Stützräder Fahrrad gefahren sind, hatten wir Angst. Inzwischen finden wir Fahrradfahren total praktisch. Aber nur, wenn wir etwas irgendwann zum ersten Mal machen, kann eine Entwicklung stattfinden. Deshalb lohnt es sich, diese Angst zu überwinden.

An Tag 3 entwickeln wir ein Vision Board – eine übergeordnete Vision, wie wir im Jahr 2030 leben wollen. Mit einer Zeitreise begeben wir uns ins Jahr 2030 an einen perfekten Tag und schauen, wie wir wohnen, wie die Einrichtung aussieht, was für ein Auto wir fahren, ob wir Familie haben. Wir schauen nicht in erster Linie nach dem Job, sondern nach Antworten auf die Fragen: Wie will ich leben, was möchte ich machen und was will ich besitzen. Das wiederum sind die Antworten auf die eben erwähnte Frage nach dem Warum: die Motivation, weshalb wir ins Handeln kommen müssen und weshalb wir uns weiterentwickeln wollen. Am Ende des Coachings nehmen die Schüler einen Masterplan mit nach Hause: 3 Berufe, die zu ihnen passen, und einen Aktionsplan, was wann erledigt werden muss. Handeln ist wichtig, aber kopfloses Handeln würde auch keinen Erfolg bringen. Und wie es für jedes Haus einen Bauplan gibt, erstellen wir einen für den Weg in den Beruf. Das eine ist also die Vision – dafür mache ich das. Und das zweite ist der Plan – was muss ich tun, um da hinzukommen?

Vor welchen Herausforderungen stehen die Jugendlichen?
Die größte Herausforderung ist, dass die Jugendlichen sich noch mitten in ihrer Persönlichkeitsfindung befinden. Auch im Abnabelungsprozess von den Eltern, was meist ein Andocken an eine Clique ist. An diesem Punkt ist die Werteentwicklung so wichtig. Haben Jugendliche beispielsweise den Wert Ehrlichkeit, können sie nicht mit ihren Freunden klauen gehen. Oder haben sie den Wert Respekt, mobben sie nicht ihre Mitschüler. Eine weitere Herausforderung ist die Vielfalt an Berufsfeldern und Ausbildungswegen, die teilweise die Jugendlichen überfordern und die wir im Coaching auf ein überschaubares Maß eingrenzen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie als Coach? Wo stoßen Sie an Grenzen?
Ich stoße dann an Grenzen, wenn jemand sich nicht verändern will und sich kontinuierlich verweigert. Ich kann dann zwar versuchen zu motivieren. Beispielsweise tun sich Jungs erfahrungsgemäß mit dem Vision Board schwerer als Mädchen. Das Vision Board ist ein großer Bogen festes Papier, auf dem aus Magazinen und Zeitschriften die wichtigen Elemente aufgeklebt werden. Ein Junge fragte mich kürzlich, was dieser Mist solle, er habe dazu keine Lust. Ich habe mich dann vor die Klasse gestellt und diese Frage einfach weitergegeben. Sofort kamen von seinen Mitschülern zahlreiche Antworten, die ihn auch so weit überzeugen konnten, dass er zumindest mitgemacht hat.

Was müsste sich aus Ihrer Sicht in Gesellschaft oder Politik verändern, um die Job- oder Ausbildungssuche für beide Seiten effektiver zu gestalten?
Eine in meinen Augen gute Entscheidung war der Schritt zurück zu G9. Wenn Jugendliche ihre Haupt- oder Realschule beenden, sind sie meist erst 15 oder 16 Jahre alt und damit viel zu jung, um eine Entscheidung für die Berufswahl zu treffen. 25 Prozent der Jugendlichen brechen ihre Ausbildung ab. Das spricht doch für sich. Ich würde mir wünschen, dass schon während der Schulzeit mehr für die Persönlichkeitsfindung und die daraus entstehende Berufswahl getan wird. Und dass es an Schulen Berufsberater gibt, die ihren Job verstehen und Spaß an der Arbeit mit Jugendlichen haben. Deren Position auch entsprechend bekannt gemacht wird an der Schule. Und die entsprechend entlohnt werden, um diesen Job adäquat machen zu können.

Ein weiterer Wunsch wäre, dass Jugendliche während ihrer Schulzeit mehr Möglichkeiten zu Praktika bekommen. Sich ausprobieren können, um herauszufinden, was ihnen Spaß macht und was sie können. Ebenso sinnvoll wäre ein verpflichtendes Orientierungsjahr nach der Schule. Sei es ein Freiwilligendienst, Wehr- oder Zivildienst oder mehrere Praktika.

Welche Rolle spielen Eltern, Lehrer oder Freunde Ihrer Erfahrung nach bei der Berufsfindung?
Leider kann das Umfeld tatsächlich auch eine Herausforderung werden. Ich traf vor einiger Zeit einen Jungen aus einer „Hartz-4-Familie“ wieder, der nach meinem Coaching ein Praktikum begonnen hatte, das ihm großen Spaß gemacht hat. Nach einigen Wochen brach er es ab, weil sein Vater ihn fragte, weshalb er in den Ferien so früh aufstehen würde und der Junge sich irgendwann selbst die Frage stellte, weshalb er eigentlich der einzige in der Familie ist, der nicht zu Hause bleibt. So was ist extrem schade. Andererseits haben Eltern, Lehrer, Freunde, aber zum Beispiel auch Trainer eine ganz tolle Beratungsfunktion, wenn sie bedenken, dass Berufsfindung auch immer Persönlichkeitsfindung ist.

Interview: Susanne Bührer

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