Chalk Back: Wie junge Menschen sexuelle Belästigung ankreiden

12. Juli 2021 / Erstlingswerk

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Lucie von catcallsofhannover kreidet eine Geschichte eines Opfers von sexueller Belästigung an.

Heutzutage wird sexuelle Belästigung in unserer Gesellschaft eindeutig als Tabu angesehen. Dennoch traumatisieren solche Vorfälle Menschen tagtäglich auf der ganzen Welt. Junge Aktivist:innen der Jugendbewegung Chalk Back visualisieren auch in Hannover diese Geschichten von Betroffenen anonym.

Die Jurastudentin Lucie wischt mit konzentriertem Blick über ihr Smartphone. In einem Dokument sucht sie den Text, den sie gleich mit Straßenmalkreide auf das Pflaster der Fußgängerzone schreiben wird. Sie packt ihr Handy in die Hosentasche, nimmt ein paar verschiedenfarbige Kreiden aus der Packung und beginnt. Jedoch ist es weder eine Werbekampagne noch ein Scherz, der hier gleich für jeden lesbar sein wird. „Ist doch egal, wie alt du bist!“, leuchten die bunten Buchstaben auf den grauen Pflastersteinen – darunter die Hashtags „stopptbelästigung“ und „ankreiden“. Diesen Spruch musste eine 14-Jährige über sich ergehen lassen. Sie wurde von einer Gruppe junger Männer sexuell belästigt, genau hier zwischen Steintor und dem Hauptbahnhof in Hannover.

Ein Kollektiv zeigt Zivilcourage

Hinter dieser und vielen weiteren Kreideaktionen, sogenannten Chalks, stehen mittlerweile insgesamt 15 Aktivist:innen. Sie nennen sich auf der Social-Media-Plattform Instagram „catcallsofhannover“ und gehören zur internationalen Jugendbewegung Chalk Back. Der Name der Initiative ist angeknüpft an das englische Verb „to talk back“ im Sinne von „erwidern, antworten“. Ihr Ziel ist es, Menschen, die zu Opfern von sexueller Belästigung geworden sind, einen Ort zu bieten, an dem sie ihre persönliche Geschichte teilen können und gleichzeitig die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren. Deswegen laden sie von jedem Chalk ein Foto auf ihrem Instagram-Kanal hoch. „In erster Linie wollen wir den Ort, der nun mit schlechten Erfahrungen verknüpft ist, für die Personen, deren Grenzen überschritten wurden, zurückerobern“, stellt Lucie klar.

Die Chalk Back Gruppe in Hannover wurde von Lucies Kollegin Lisanne im Sommer 2019 gegründet. Seither betreiben sie deutschland- und weltweit gesehen mit mehr als 14.000 Abonnenten einen der größten Chalk-Back-Accounts. Die Kreide, die sie verwenden, bezahlen alle Mitglieder von ihrem eigenen Geld. Auf Instagram vermitteln sie neben den geposteten Fotos auch Informationen zu Hilfetelefonen und weiteren Anlaufstellen, die Opfer von Belästigung individuell beraten. Des Weiteren stellen sie regelmäßig bedeutende Frauen der Geschichte vor, um ein Bewusstsein für Gleichberechtigung zu schaffen.

Chalk Back: Die Anfänge einer weltoffenen Organisation

Der Ursprung der Bewegung geht auf die Studentin Sophie Sandberg zurück, die 2016 in New York City aufgrund von eigenen Erfahrungen mit Belästigung den ersten Chalk Back-Account ins Leben rief. Seitdem breiten sich ihre Aktivitäten über den gesamten Globus aus und erstrecken sich bereits über sechs Kontinente, 49 Länder und über 150 Städte. „Wer im Namen des Kollektivs tätig sein möchte, muss sich mittlerweile über Formulare und Einsendungen von Videos über die Webseite von Chalk Back registrieren und verifizieren lassen“, erklärt Lucie. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Verantwortung an Menschen, die im Sinne der Organisation handeln, übertragen wird.

Vor allem junge Frauen kommen im öffentlichen Raum mit Catcalling (verbaler sexueller Belästigung) immer wieder in Berührung. Wobei die Begriffe Catcalling und sexuelle Belästigung generell geschlechtsneutral sind. Oftmals ist es ein Hinterherpfeifen, ein übergriffiger Spruch oder ein Aufruf zu sexuellen Handlungen, der die Opfer in Angst versetzt und meist noch lange Zeit nach dem Vorfall beschäftigt. Lucie weist daraufhin, dass sich die Opfer oft selbst die Schuld geben, die Tat aus Scham verheimlichen und versuchen mit der Last zu leben. 

,,Die Jugend ist die Zukunft in jeder Hinsicht. Man muss bei der jungen Generation anfangen und den Menschen von vornherein erklären: Nein heißt Nein.“ 

Lucie von Gierke, Mitglied von catcallsofhannover

So nimmt die Öffentlichkeit in Hannover die Chalk Backs auf

Beim Ankreiden haben Lisanne, Lucie und ihre Mitstreiter:innen schon verschiedenste Reaktionen bekommen. Des Öfteren werden sie von jungen Menschen angesprochen, die die Bewegung Chalk Back oder sogar den Kanal aus Hannover kennen und die Botschaft großartig finden. Allerdings gibt es auch einige interessierte Passant:innen, welche die Initiative noch nicht kennen. Ihnen erklärt das Team gerne, worum es geht, hört zu, gibt Ratschläge und ist stets für konstruktive Diskussionen offen.

Die oft brutalen und ordinären Sprüche, die sie auf den Asphalt schreiben, erzeugen allerdings sowohl online als auch offline teilweise negative Rückmeldungen. Durch die Anonymität im Internet hat das Chalk-Back-Team aus Hannover gelegentlich mit Diskussionen mit User:innen zu tun, die sehr beleidigend und aggressiv reagieren. Selbst diesen Kritiker:innen begegnen sie mit Höflichkeit, nehmen Stellung und leisten Aufklärungsarbeit.

Mit dem Ordnungsamt hatten die Hannoveraner Aktivist:innen bisher wenig Kontakt. „Die Polizei steht mit dem Team in regem Austausch, um im Einverständnis mit Betroffenen Vorfälle von strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt aufklären zu können“, berichtet Pressesprecherin Natalia Shapovalova von der Polizeidirektion Hannover. Viele Fälle von sexueller Belästigung finden am Bahnhof sowie in den öffentlichen Verkehrsmitteln statt. „Auf dem Bahnhofsgelände darf man allerdings nicht ankreiden, da es privat ist. Deshalb hatten wir schon mehrmals Stress mit Sicherheitsleuten, die dann ein Bußgeld oder sofortiges Entfernen des Chalks verlangten“, erzählt Lucie. Um vielleicht einen Kompromiss aushandeln zu können, bemühen sie sich seither, einen Kontakt zur Deutschen Bahn herzustellen.

Weitere Ableger in der Region

Auch im Umland von Hannover werden Geschichten von sexueller Belästigung bereits angekreidet. Hildesheim beispielsweise kann seit 2019 ein Team aus vier Mitgliedern stellen. Dennoch freuen sie sich immer über weitere Interessierte, die sie unterstützen möchten. Die Fachwerkstadt Celle hat ebenfalls eine Gruppe, die sich im Namen der Bewegung engagiert.

Trotz der vielen Einschränkungen durch die Coronakrise bleibt das Team von catcallsofhannover optimistisch. Lucie schildert: „Für nach der Pandemie haben wir mehrere Angebote geplant; zum Beispiel in Schulen zu gehen und dort aufzuklären. Wir hoffen, damit viel mehr Menschen möglichst früh mit unserer Botschaft erreichen zu können.“

Aktivist:innen von catcallsofhannover berichten bei H1 von ihrer ehrenamtlichen Arbeit

Autorin: Helena Wilmerding

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