
Text: Bernd Schwope
1862 von Ferdinand Wahrendorff gegründet, zählt Wahrendorff zu den größten psychiatrischen Kliniken Deutschlands. Mit über 2.500 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Bereich Klinik, Wohnen und Tagwerk zählt Wahrendorff zu den größten Arbeitgebern im Gesundheitswesen der Region. Wir trafen Geschäftsführer Holger Stürmann in Ilten, um über sein Unternehmen, die Herausforderungen in Krisenzeiten, bürokratische Hürden und die Zukunft psychiatrischer Behandlung zu sprechen.
radius/30: Ich bitte die Verzögerung am Anfang zu entschuldigen. Ich muss erst mal meine beiden Aufzeichnungsgeräte, mein Handy und einen alten MP3-Player, einstellen. Ich fahre immer doppelt, seitdem mir eine Aufnahme nicht oder nur zum Teil gespeichert wurde.
Holger Stürmann: Wir leben ja in Deutschland ein wenig hinter dem Mond. 1998 war ich in Hongkong auf einem sechstägigen Städtetrip. Damals gab es in Deutschland die ersten C-Funk-Mobiltelefone. In Hongkong aber gab es damals schon kein Festnetz mehr. Alle rannten mit Mobiltelefonen an der Gürtelschnalle herum. In Deutschland haben wir hier ein hohes Beharrungsmoment.
Damit sind wir schon fast bei der Psychologie …
Ja, das ist schon merkwürdig. Einerseits gelten die Deutschen als die Dichter und Denker, die Kreateure, die alles erfinden. Seien es Röntgengeräte, CD-Spieler oder die Atombombe. Andererseits gibt es diese Eigenschaft, an Dingen ohne Hinterfragen festzuhalten. Unser Land ist ein Entwicklungsmotor. Interessanterweise bekommen wir es aber nicht hin, daraus ein Geschäftsmodell zu gestalten. Das blockiert Entwicklungen. Das Rollout der Festnetztelefonie hat 100 Jahre gedauert, das Rollout des Smartphones zehn Jahre. Das zeigt, wenn wir das Ohr nicht auf der Schiene haben, sind wir immer im Gestern. Stichwort: Digitalisierung in Deutschland. Da sind wir im Vorgestern. Ergänzend dazu kommt der regulatorische Wahnsinn. Wir verbriefen per Verordnung oder Gesetz, dass wir im Vorgestern bleiben wollen.
Kommen wir zum Heute und Wahrendorff. Wenn Sie ein Mensch, der noch nie den Begriff Wahrendorff gehört hat, danach fragt: Wie würden Sie ihm den Begriff in zwei, drei Sätzen erklären? Geht das überhaupt?
Ja, das geht. In Wahrendorff kümmern wir uns um Menschen in seelischer Not. Das ist erst mal der Einstiegssatz. Folgend: Wir sind eine psychiatrische Komplexeinrichtung, in der wir voll- und teilstationäre sowie ambulante psychiatrische Akutbehandlung vornehmen. Deswegen haben wir in Köthenwald das neuste und größte psychiatrische Fachkrankenhaus mindestens von Norddeutschland der letzten 25 Jahre. Und in Celle seit zehn Jahren ein weiteres Akutkrankenhaus. Darüber hinaus unterhalten wir in Celle, Lehrte und Hannover diverse Tageskliniken und sind im Bereich der tagesklinischen psychiatrischen Versorgung der zweitgrößte Anbieter Deutschlands. Unsere Tagesklinik am Welfenplatz ist meines Wissens mit 104 Plätzen die größte psychosomatische Tagesklinik Deutschlands. Das Ganze wird aber begleitet durch einen unfassbar großen Wohnbereich nach Bundesteilhabegesetz im Rahmen der Eingliederungshilfe. Wir versorgen jeden Tag über 1.000 Menschen, die befristet, aber teilweise auch dauerhaft bei uns wohnen. Diese Menschen haben quasi einen Mietvertrag für das Dach über dem Kopf und ergänzend mit uns einen Fachleistungsvertrag an der Hand. Kurzum: Sie werden durch psychiatrisch ausgebildetes Fachpersonal rund um die Uhr versorgt und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet.
Ich denke, es braucht wohl doch mehr als drei Sätze um Ihren ganzen Aufgabenbereich zu erklären.
Das denke ich auch. Das Ganze wird wiederum durch die Tochtergesellschaft Ernst-August Wilkening Pflegeheim GmbH ergänzt. Hier betreuen wir noch mal rund 460 pflegebedürftige Personen, die zudem eine psychiatrische Diagnose haben. 65 Jahre alt und pflegebedürftig im somatischen Sinn zu sein, ist dabei nicht das Einstiegskriterium. Dort haben wir Klienten, die sind deutlich jünger, haben aber eine seelische Erkrankung. Und sind deshalb pflegebedürftig.
In Ihrem Jahresbericht las ich von einem im Alter von 88 Jahren verstorbenen Bewohner, der durch seine Kunstwerke bekannt geworden ist. Er lebte seit seinem 15. Lebensjahr bei Ihnen. Eine Ausnahme?
Wir haben im Rahmen unserer Eingliederungshilfe – das ist unser größter Bereich – die Intention, die uns anvertrauten Menschen in die Eigenständigkeit zurückzuführen. Sie werden häufig gegen ihren Willen mit Beschlüssen hier geschützt untergebracht, weil sie sehr auffällig sind. Wir versuchen sie insoweit zu stabilisieren, dass sie in den offenen Wohnbereich kommen. Und wenn es dann besser läuft, ziehen sie beispielsweise in eine Wohngruppe, die tagesambulant betreut wird. Danach versuchen wir natürlich, die Menschen wieder in die Eigenständigkeit zu bringen. Zu Ihrer Frage: Der benannte Bewohner ist sicher mit so einer langen Lebensgeschichte in Wahrendorff eine Ausnahme.
Gibt es dazu Zahlen, wie oft das der Fall ist?
Pro Jahr gelingt das bei durchschnittlich 50 Menschen. Es können aber 40 oder auch 80 sein. Das heißt aber nicht, dass sie eine eigene Wohnung haben, einen Job und ein – in Anführungsstrichen – „normales Mitglied der Gesellschaft“ sind. Ich sage bewusst „in Anführungsstrichen“. Denn was ist schon normal? Das, was normal ist, definieren wir als Gesellschaft durch die Enge oder Weite unserer Scheuklappen. Je enger wir die stellen, desto weniger Menschen sind normal. Wenn wir die ganz eng stellen, ist keiner normal.
Das fängt schon bei dem höchsten Amtsträger eines Staates an …
Wenn wir uns darauf verständigen könnten, dass niemand normal ist, könnten wir alle ein wenig entspannter agieren.
Ich kenne einige Fälle aus dem Familien- und Bekanntenkreis, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Das war immer ein Tabuthema, über das niemand gerne gesprochen hat. Hat sich in der Gesellschaft die Sensibilität gegenüber psychischen Krankheiten im Laufe der Jahre geändert?
Ja. Das sieht man schon an der historischen Entwicklung. Psychiatrische Einrichtungen hießen früher Anstalten oder Irrenhäuser. Das war das Wording für diese Einrichtungen. Wir hießen früher ja auch Wahrendorffsche Anstalten. Typischerweise sind diese Anstalten außerhalb der Stadt. Weil man diese Menschen, die hier versorgt werden, in der Stadt nicht haben will. Wenn Sie die deutsche Landkarte mit allen großen Einrichtungen anschauen, werden Sie kaum eine im Stadtgebiet finden. Ich denke in dem Zusammenhang an den Song von Joachim Witt „Der goldene Reiter“ mit der Textzeile „Vor den Toren der Stadt“. Das hat natürlich ganz viel mit Stigma zu tun. Psychiatrische Erkrankungen sind stigmatisiert. Für das gebrochene Bein bekomme ich Beileid. Für die Depression, eine deutlich schwierigere Krankheit, bekomme ich Kopfschütteln. Nach dem Motto: Stell dich doch nicht so an! Da erleben wir zum Glück einen deutlichen Wandel. Das ist ein Stück weit die Philosophie von Wahrendorff, die Dr. Wilkening 30 Jahre intensiv miteingebracht hat. Sein Credo: Wir müssen die Mauern der Psychiatrie schleifen. Wir müssen unsere Türen und Tore öffnen. Wir sind ein öffentliches Gebäude, in das jeder hineinlaufen kann.
Sie sind auch sehr aktiv, was öffentliche Veranstaltungen auf Ihrem Campus angeht.
Wir veranstalten viele Feste, wo wir ganz bewusst neben den Bewohnern des Dorfes, der Stadt, der Region unsere Heimbewohner mit einladen und bewusst mischen. Wir wollen zeigen: Das sind Menschen. Die sind besonders. Aber die sind auch besonders behandlungsbedürftig. Die kann man nicht alleine lassen. Gerade bei jungen Menschen sehen wir, dass eine deutlich steigende Akzeptanz da ist und sich ein anderes Verständnis für psychiatrische Krankheitsbilder entwickelt.
Vielleicht ist es nur eine subjektive Wahrnehmung von mir: Aber ist nicht seit Corona die Anzahl psychischer Störungen gestiegen, gerade bei jungen Menschen?
Epidemiologisch ist die Inzidenz für psychiatrische Erkrankungen konstant. Über den Daumen gepeilt entwickelt jeder Vierte in seinem Leben Depressionen. Ein Burn-out ist keine Erkrankung. Ein Burn-out ist eine Befindlichkeitsschwankung intensiver Art, aber keine Depression. Da gibt es schon eine feine Graduierung. Man sieht dies auch bei unseren Patienten. Über 50 Prozent haben als Haupt- oder Nebendiagnose auch eine Depression. Eine Erkrankung, die immer wieder auftaucht, auch zusammen mit anderen Erkrankungen.
Also hat Corona gar nicht so viel verschlimmert?
Doch! Es war gar nicht das Virus als solches, sondern die pandemiebegleitenden Maßnahmen. Sie sorgten für Vereinsamung mit Auswirkungen schwerster Art auf junge Menschen. Natürlich führt der Ukraine-Krieg, die allgemeine weltpolitische Lage und das, was tagtäglich unser eigentlich befreundeter Partner USA veranstaltet, zu Zukunftsängsten. Die älteren Generationen haben das seinerzeit gut resilient gemanagt. Wir waren im kalten Krieg, die Fronten waren klar. Klare Fronten führen zu Stabilität, seien sie noch so hart und noch so schwer. Aber dann hat sich die ganze Welt ein Stück amorph entwickelt. Das schafft keine Sicherheit. Der Mensch ist a.) ein Rudeltier und b.) braucht der Mensch Grenzen. Er braucht Flüsse, Berge, Himmel, Erde. Wenn diese Grenzen verschwimmen und sich aus dem Nichts neue Bedrohungslagen entwickeln, die wir über Jahrzehnte nicht gewohnt waren, wirkt sich dies auf die Psyche aus. Wir können mit dieser Lage nicht umgehen und sehen viele junge Menschen mit Zukunftsängsten.
Das müssten Sie doch als erstes merken?
Vom Grundsatz her haben wir in der Psychiatrie – ich bin jetzt seit 29 Jahren dabei – die ganze Zeit über steigende Fallzahlen. Schauen Sie sich den Krankenhausbettenplan Niedersachsens an, welche Fachbereiche steigende Bettenzahlen haben. Dazu zählt die Psychiatrie.
Wie gehen Sie mit der Situation um?
Wir haben einen unfassbaren Bewegungsdruck. Wir sind zu 100 Prozent ausgelastet. Ob bei uns in Ilten, Köthenwald und Celle oder in Wunstorf, Langenhagen, Rinteln, Königsluther – überall gibt es psychiatrische Angebote. Wir sind mit all diesen Kliniken nicht im Wettbewerb um Patienten. Ich habe sogar einen ganz engen Austausch mit diesen Kliniken. Es gibt sogar einen Fachzirkel, bei dem wir uns intensiv austauschen und mit unseren Zahlen und Fakten sehr offen umgehen. Mein Wirtschaftsplan für das laufende Jahr basiert auf der erwarteten Menge und Qualifikation des Personals, das ich glaube, für dieses Jahr gewinnen zu können, nicht auf der vorhandenen Nachfrage nach Versorgung.
Stichwort Arbeitskräftemangel – auch bei Ihnen ein Problem?
Auf der Basis dieser erwarteten Personalkapazität plane ich meine Leistung. Würde ich die Nachfrage voll und ganz bedienen und dabei meine ganzen Wartelisten von neun und mehr Monaten bearbeiten, könnte ich mein Krankenhaus um 50 Prozent erweitern.
Was machen die Menschen, die nicht bei Ihnen unterkommen?
Ganz klar: Wir haben einen Versorgungsmangel. Das liegt im Grunde daran, dass im ambulanten Versorgungsfall nicht ausreichende Kapazitäten vorhanden sind. Die Erstversorgung bei Depressionen sollte erst mal über einen niedergelassenen Arzt erfolgen.
Das heißt: Wenn ich eine depressive Verstimmung habe, muss ich erst mal zum Hausarzt? Oder darf ich gleich zu Ihnen kommen?
Das hängt davon ab. Wenn ich merke, ich habe eine depressive Verstimmung, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dann gehe ich erst mal zum Hausarzt. Und der schickt mich dann zum Facharzt. Da habe ich dann schon das erste Problem. Sie bekommen keinen Termin. In urbanen Gegenden haben Sie unfassbare Wartezeiten. Bis dahin, dass Sie einen Arzt anrufen und gar keinen Termin bekommen, weil der keine neuen Patienten aufnimmt. So können Wochen, Monate ins Land gehen. Wenn die Situation wirklich kritisch ist, würden das im Zweifel auch der Hausarzt oder Verwandte, Freunde merken. Dann kann man tatsächlich über eine Akuteinweisung ins Krankenhaus kommen. Alle Krankenhäuser sind Pflichtversorger. Wir müssen für einen definierten Einzugsbereich Patienten annehmen und diagnostizieren. Um dann gemeinsam zu überlegen, was die richtige Therapie ist.
Ist das nicht ein Dilemma für Sie, wenn es für dringende Fälle keine Belegungsmöglichkeiten gibt?
Notfälle nehmen wir natürlich auf. Das führt auch dazu, dass man mal ein Bett auf dem Flur hat. Dann überlegen wir: Behalten wir den Patienten in der stationären Versorgung oder übergeben wir ihn in die tagesklinische Versorgung. Er kann dann zu Hause leben, ist aber tagsüber zur Behandlung in der Klinik. Das macht der aufnehmende Arzt, der die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit feststellt. Das ist ein Fachbegriff, der aber genau vonseiten der Krankenkasse vorgeschrieben ist. Dann findet auch eine Versorgung statt. Was ich immer empfehle, bevor sich jemand zu Hause einschließt oder auf komische Gedanken kommt, ist a.) mit vertrauten Personen sprechen und b.) auch mal zum Telefon zu greifen und die Seelsorge anzurufen. Dort erreicht man rund um die Uhr jemanden. Es gibt auch Notrufnummern für seelische Nöte. Wenn es wirklich zu schlimm ist: Ab ins Krankenhaus! Selbst wenn man eine Abfuhr bekommt, hat man dort mit einem Fachmann gesprochen und es erfolgt erst mal eine grobe Anamnese. Das kann ich nur empfehlen.
Macht es für den Patienten einen Unterschied, wohin er geht? Ob in eine Psychiatrie in privater Trägerschaft oder in eine staatlich geführte Klinik?
Es gibt eine Landeskrankenhausplanung vom Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung. Die erfolgt jedes Jahr aufs Neue. In diesem Plan ist genau definiert, an welchem Standort welches Krankenhaus welche Leistung anbietet. Wir sind ein sogenanntes Plankrankenhaus. Wir sind mit unseren beiden Kliniken Bestandteil der Landeskrankenhausplanung. Wir bekommen also Betten zugewiesen und sind ein Pflichtversorger für eine gewisse Einzugszone. Wir sind zwar in der Trägerschaft eine gemeinnützige Stiftung, im Grunde also privat, aber dennoch gemeinnützig. Das unterscheidet uns von anderen Krankenhäusern. Ob der Gesellschafter eine gemeinnützige Stiftung ist oder die Region Hannover oder wie bei der MHH das Land Niedersachsen, ist per se erst mal egal.
Wie wird man Geschäftsführer einer psychiatrischen Klinik?
Zum Gesundheitswesen bin ich ein wenig wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Meine Eltern arbeiteten im pharmazeutischen Außendienst. Insofern hatte ich eine Affinität zu Medizin. Danach kam ganz normal Abitur, Bundeswehr, Studium Diplomökonomie in Oldenburg. Eher zufällig habe ich in einem Krankenhaus in Bad Segeberg 1996 meine Diplomarbeit als empirische Studie geschrieben. Zusammen mit dem Chefarzt entwickelte ich ein Versorgungsmodell; Thema: präventive Gesundheitschecks und präventive Gesundheitsfürsorge für Top-Manager. Tatsächlich haben wir die 500 größten Wirtschaftsunternehmen angeschrieben, ob sie nicht Lust hätten, für ihre Top-Manager deren Resilienz in einem Diagnostikprogramm zu testen. Das Ergebnis war extrem ernüchternd. Es interessierte niemanden. Fazit: Wenn ein Top-Manager abspringt, wird halt ein neuer eingestellt. Würde ich heute die Unternehmen fragen, ergäbe sich ein ganz anderes Bild. 1996 war die Arbeitslosigkeit hoch. Damals hat man einen Waschkorb voller Bewerbungen auf eine Stellenanzeige erhalten. Heute schicke ich einen Waschkorb voller Stellenanzeigen los und bekomme eine Bewerbung. Der Arbeitsmarkt hat sich komplett gedreht. Ich habe nach dem Studium 13 Jahre bei PwC, einer nicht ganz kleinen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, gearbeitet. Dann kam 2010 der Schritt aus der Beratung raus und ich gelangte in Geschäftsführungspositionen. Erst bei einem kommunalen Träger im Landkreis Minden-Lübbecke, dann vier Jahre für den privaten Gesundheitskonzern AMEOS. Nun bin ich schon über vier Jahre in Wahrendorff. So bin ich ins Gesundheitswesen gekommen und da hängengeblieben. Das ist das, was ich kann.
Macht es einen Unterschied, in welchem Bereich des Gesundheitswesens man arbeitet?
Doch, das macht einen Unterschied. In der Psychiatrie arbeite ich seit 2016. Das Interessante ist, dass sich dabei auch meine Sichtweise auf psychische Erkrankungen geändert hat. Ich durfte in „meinen“ Krankenhäusern vorher auch mal bei einer OP dabei sein und Haken halten. Das fand ich als Hobbyheimwerker sehr spannend. Wenn man dann in die Psychiatrie kommt und sich die Patienten anschaut, die chronifiziert sind und schon extrem lange in ihren Krankheitsbildern leben, dann merkt man erst, was richtige Krankheiten sind. Ein Organdefekt, ein Knochenbruch; das ist alles irgendwie heilbar. Mein Bein ist seit meinem Motorradunfall auch 1,5 cm kürzer als das andere. Mit Folgen somatischer Art kann ich leben. Aber das ist alles Pipifax im Vergleich zu einer wirklich schweren psychiatrischen Erkrankung. Die Menschen leiden derart außerhalb der eigenverantwortlichen Lebensfähigkeit und haben einen hohen Hilfebedarf. Das ist teilweise dramatisch anzuschauen.
Wie gehen Sie persönlich damit um?
Ich habe in Hildesheim vier Jahre die Kinder- und Jugendpsychiatrie verantworten dürfen. Da fehlt mir schon die Distanz zu den Patienten und ihren Schicksalen. Das nimmt einen mit. Und zwar richtig. Aber ich merke, dass unsere Gesellschaft allmählich dafür Verständnis entwickelt. Und zunehmend erkennt, dass psychiatrische Erkrankungen dazugehören. Im Rahmen unserer demografischen Entwicklung – wir werden immer älter – werden die physischen Belastungen immer weniger. Wir ackern nicht mehr mit Spitzhacke und Meißel im Bergbau. Das machen alles Maschinen oder Roboter. Wir haben andere Arbeitsbilder und dadurch andere Krankheitsbilder. Parallel dazu führt der medizinische Fortschritt dazu, dass wir unendlich alt werden. Im Alter fängt eines der nicht ganz unwesentlichen Organe, das Gehirn, auch mal an, Stoffwechselstörungen zu entwickeln. Eine Stoffwechselstörung im Gehirn kann eine schwere Psychose auslösen. Wenn Sie in der Bauchspeicheldrüse eine Stoffwechselstörung haben, haben Sie z. B. Diabetes. Wenn Sie im Gehirn eine Stoffwechselstörung haben, haben Sie z. B. eine Neurose. Das ist in der Bevölkerung nicht wirklich bekannt. 40 – 60 Prozent der psychiatrischen Erkrankungen sind bedingt durch eine Stoffwechselstörung.
Was kann man dagegen tun?
Medikamente einnehmen und Therapie bekommen. In dem Bereich wird allerdings nicht viel geforscht, weil sich die Therapieerfolge manchmal über Monate, gar Jahre hinziehen, bis sie sichtbar sind. Beim Knochenbruch kommt eine Schraube rein. Zack. Fertig. Psychiatrische Erkrankungen gehen leider nicht „Zack“.
Das vollständige Interview mit Holger Stürmann …
… finden Sie in der radius/30 Ausgabe April/Mai.