Es darf gewuschelt werden

16. Januar 2018 / Gesellschaft

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Mit Demenzkranken auf eine musikalische Zeitreise gehen – das ist das Ziel von Klang und Leben. In Pflegeeinrichtungen gibt das Team um den renommierten Jazz- und Rock-Sänger Oliver Perau Konzerte, die Musiker wie Kranke zu Tränen rühren. radius/30 stellt eines der interessantesten Musikprojekte der Unesco City of Music Hannover vor – ein Projekt, das Ende 2016 mit dem Stadtkulturpreis geehrt wurde.

Die Dame in der ersten Reihe wirkt abwesend. Versunken in ihrer eigenen Welt. Dann erscheint ein großgewachsener Mann vor dem Mikro, schaut die Dame an und singt den alten Schlager „Ich breche die Herzen der stolzesten Frauen“. Und tatsächlich: Leise murmelt die Dame die Textzeile mit, ihre Augen leuchten. „Solche Momente gibt es nach über drei Jahren und circa 180 Konzerten unzählige. Es ist immer wieder berührend zu sehen, was man mit Musik erreichen kann. Die Menschen, die sonst verschlossen und nur noch schwer zugänglich sind, öffnen ihren Blick, singen mit, lachen. Das führt bei Pflegern oder Angehörigen oft zu großem Staunen und zu Tränen der Rührung. Auch bei uns“, sagt Oliver Perau. Mit „uns“ ist das Demenzprojekt Klang und Leben gemeint. Für den als Sänger der Rockband Terry Hoax und als Swingsänger unter dem Synonym Juliano Rossi erfolgreichen Perau ist dieses Projekt zur Herzensangelegenheit geworden. „Wir machen Musik in Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz. Wir spielen alte deutsche Schlager aus den 30er- bis 50er-Jahren. Es gibt Eierlikör, es wird getanzt, gelacht und laut gesungen“, erklärt Perau die Idee. Mit bis zu drei Musikern und einem Demenzcoach geht das Team in die Senioreneinrichtungen und begibt sich mit den Bewohnern auf eine musikalische Zeitreise.  Auf dieser Reise sollen die Demenzkranken sich wieder neu entdecken – durch Musik. Jeder weiß, welche positiven Erinnerungen Musik hervorrufen kann. Das Verschwinden dieser Erinnerung erzeugt bei Demenzerkrankten große Ängste und Verunsicherung. Die Menschen ziehen sich zurück und nehmen nur noch sehr begrenzt am Leben teil. Musik ist in solchen Fällen der Türöffner. In Absprache mit den Einrichtungen gestaltet das Team von Klang und Leben den musikalischen Rahmen und bindet die Ideen der jeweiligen Einrichtung mit ein. Das heißt: Betreuer, Angehörige und Bewohner können aktiv teilnehmen.

„Klang und Leben ist darauf ausgerichtet, an Demenz erkrankten Menschen eine möglichst hohe Lebensqualität zu schenken. Als Schirmherr unterstütze ich das Projekt und gratuliere zu dieser tollen Idee.“ (Jan-Josef Liefers, Schauspieler, Schirmherr des Projektes)

Musik als Kommunikation

Musik ist in der Lage, Lebensräume für nur noch begrenzt kommunikationsfähige Menschen zu schaffen. Musik kann die Menschen erreichen, welche die Sprache nicht mehr erreicht. Mit dieser Philosophie leistete Klang und Leben in den letzten Jahren Erstaunliches. Die Konzerte in den Pflegeeinrichtungen sind umsonst, die Resonanz ist enorm. Am 6. Dezember letzten Jahres erhielt Klang und Leben den Stadtkulturpreis des Freundeskreises Hannover e. V. Die Laudatio hielt Doris Schröder-Köpf, niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe.

Für Perau, der gewohnt ist, vor Hunderten Zuschauern aufzutreten, sind diese intimen Konzerte eine besondere Erfahrung. „Bei Klang und Leben gibt es keine richtige Trennung zwischen Musiker und Publikum. Es gibt keine Bühne. Wir sitzen mittendrin und machen zusammen Musik – ohne Berührungsängste. Und es ist wesentlich interaktiver. Wer was erzählen will, erzählt was, wer dem Sänger in den Haaren rumwuscheln will, wuschelt. Es ist anarchisch, man weiß nie, was passieren wird. Das macht es sehr spannend“, sagt Perau. Spannender als vielleicht ein Konzert mit Terry Hoax im ausverkauften Capitol? Perau widerspricht: „Wir wollen die Menschen unterhalten, mitreißen, begeistern, ihre Lebensfreude wecken. Das ist bei Juliano Rossi oder Terry Hoax nicht anders.“

Zwischen den Liedern plaudern die Aktiven von Klang und Leben mit den Bewohnern beim „Kaffeeklatsch“ über vergangene Zeiten. Die Übergänge zwischen den musikalischen Anteilen und dieser Biografiearbeit sind fließend. Im Abschluss findet eine Evaluation statt, indem die aktuelle Befindlichkeit der Teilnehmer festgehalten wird. Der Wert der musikalischen Arbeit und der Nutzen für die alltägliche Begleitung der Bewohner werden sofort sichtbar. Im weiteren Verlauf bietet Klang und Leben den Einrichtungen Beratung bezüglich der Umsetzung eigener Projekte an.

„Da meine Mutter am Ende ihres Lebens an Alzheimer litt, weiß ich ganz genau, was Sache ist. Das ,Klang und Leben Projekt’ ist für mich ein Kolumbus-Ei, eine völlig unspektakuläre Art, den Betroffenen ein wenig Freude in ihr Leben zurückzubringen.“ (Wolfgang Niedecken, Musiker, Maler und Autor)

„Kalkutta liegt am Ganges“

Teilnehmen können alle Einrichtungen in der Seniorenbetreuung, die in der Versorgung und Betreuung von dementen Menschen einen wichtigen Beitrag leisten. Die Einrichtungen bewerben sich für die kostenlose Durchführung einer musikalischen Zeitreise bei Klang und Leben.

Initiiert wurde Klang und Leben von Demenzcoach und Gitarrist Graziano Zampolin und dem Schlagzeuger der Band Fury in the Slaughterhouse, Rainer Schumann. Zampolin ist für den Bereich der musikalischen Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitern der sozialen Betreuung zuständig. In der Band sind zudem der Schlagzeuger Karsten Kniep und die Keyboarder Andreas Meyer und Jens Eckhoff (Wir sind Helden) aktiv. Wissenschaftlich begleitet Professor Dr. Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin bei der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, das Projekt. Die Begegnungen mit den Demenzkranken werden evaluiert und wissenschaftlich ausgewertet. Ausgewertet werden auch die Konzerte, aber nicht wissenschaftlich. Es geht eher darum, was besonders ankommt. „Ein Dauerbrenner ist ,Kalkutta liegt am Ganges‘, aber ansonsten variiert es sehr. Wir haben mittlerweile ungefähr 30 Songs im Programm und es kommen immer wieder neue alte Lieder dazu. Der Fundus an schönen Liedern aus dieser Zeit ist riesig. Mein Favorit ist ,Kauf dir einen bunten Luftballon‘.

Die Top-13 haben wir neulich auf unserer CD ,Damenwahl‘ verewigt. „Kann man überall kaufen“, sagt Perau. Mit dem Verkauf der CD finanziert sich unter anderem das Projekt. Und natürlich durch Spenden. Perau: „Insofern kann man uns mit Geld schon eine große Freude machen. Die Konzerte in den Pflegeeinrichtungen sind umsonst. Wir wollen keinen Klassenunterschied. Nicht nur der, der es sich leisten kann, soll Klang und Leben einladen dürfen. Das funktioniert super und wird allen gerecht.“

www.klangundleben.org

Text: Bernd Schwope
Fotos: Frank Wiechens

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