5 Stimmen aus dem Einzelhandel – Teil 1: Liebe und Zeug

11. Oktober 2021 / Wirtschaft

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Bild: Simona Bednarek

März 2020: erster Lockdown. November 2020: Lockdown light. Dezember 2020: harter Lockdown. April bis Juni 2021: Bundesnotbremse. Wie ist es dem Einzelhandel in und um Hannover in der Corona-Zeit und während der Lockdowns ergangen? Und wie geht es heute? Wir haben Unternehmerinnen und Unternehmer aus unterschiedlichen Branchen zu ihren Erfahrungen befragt.

In den Gesprächen wurde deutlich, dass die soziale Komponente während der Pandemie eine noch größere Rolle spielte als ohnehin schon – sowohl der Austausch mit der Kundschaft als auch der Zusammenhalt innerhalb der Teams. Außerdem wurde bei allen Befragten der „Selbstständigen-Spirit“ deutlich: Sie warteten nicht ab, sondern wurden kreativ und packten an – entschlossen, mit einfallsreichen Produkten oder neuen Vertriebswegen einen Weg aus der Krise zu finden.


Liebe und Zeug – Wundertüten und Komplimente zum Mitnehmen


Julia Heuser vertreibt in ihrem Laden Liebe und Zeug Design aus Dänemark und anderen Ländern. Dabei legt sie großes Augenmerk auf nachhaltige Produkte aus Biomaterialien, die in Deutschland oder Europa produziert wurden, Fair-Trade-Label und auf Marken, die man im Onlinehandel eher nicht findet.

radius/30: Frau Heuser, wenn Sie auf die letzten Monate zurückblicken – wie ist es Ihnen mit „Liebe und Zeug“ ergangen?

Julia Heuser: Wenn ich einen großen Bogen ziehen muss: Es war eine aufregende, anstrengende und fordernde Zeit.

Was sind die wichtigsten Learnings aus dieser Zeit?

Ich versuche, keine Befürchtungen zu haben, denn die letzten Monate haben gezeigt, dass man nicht wissen kann, was kommt. Ich habe gelernt, dass man sich dann immer noch Sorgen machen kann. Manchmal fühlte ich mich mit meinem Optimismus fast ein bisschen als Cheerleaderin des Viertels. Im Einzelhandel sind mir zwei Lager begegnet: die einen, die abgewartet haben, und die anderen, die in Aktion gegangen sind und sich kreative Aktionen ausgedacht haben.

Wie denken Sie über die Corona-Politik in Hinblick auf staatliche Unterstützung?

Die erste Herausforderung war für mich die Größe meines Ladens: Die Hilfen bezogen sich ja nur auf Kosten des Betriebs, aber nicht auf das, was Selbstständige zum Leben brauchen oder auf Mitarbeiter in Teilzeit. Ich hätte beispielsweise einen Mitarbeiter in Vollzeit oder drei in Teilzeit haben müssen, um dafür Hilfen beantragen zu können. Die zweite Herausforderung war die Beantragung. Ich arbeite von Anfang an mit einem Steuerberater zusammen, der mich zum Glück informiert und unterstützt hat. Aber auch das verursacht natürlich wieder Kosten. Ich bin dankbar für die Förderungen, aber ich glaube nicht, dass die Politik verstanden hat, wie viele von uns arbeiten. Denn die Hilfen waren auf „klassische Arbeitssituationen“ zugeschnitten – auf ein Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Modell, das es aber in der Realität – zumindest im urbanen Raum – so kaum gibt.

Ich musste im Voraus meine Umsätze schätzen, was quasi unmöglich ist, wenn man nicht weiß, ob der Laden geöffnet sein kann. Hat man sich verschätzt, muss man wieder zurückzahlen. Zusätzlich hat man viel Aufwand für Schätzung, Beantragung und Kosten für den Steuerberater, um am Ende vielleicht erhaltene Hilfen zurückzahlen zu müssen. Und mir fiel ein „Windhundprinzip“ bei der Verteilung auf: Wer schnell beantragt hat, bekam Unterstützung. Wer zu spät von Fördertöpfen erfahren hat, ging leer aus. Da ging es nach Geschwindigkeit und nicht danach, wer es am dringendsten benötigt. Bei manchem Ablauf war mir nicht klar, ob es von der Politik so geplant oder zumindest in Kauf genommen wurde, oder ob es der Tatsache geschuldet war, dass alles so schnell gehen musste. Außerdem fiel mir in meinem Umfeld auf, dass Selbstständige nicht gewöhnt sind, Hilfen einzufordern, sondern eher sagen „Wir schauen jetzt erst mal, ob wir das nicht selbst hinbekommen“, weil sie es einfach gewöhnt sind, Dinge allein zu schaffen. Wenn sie dann doch Unterstützung gebraucht hätten, waren die Töpfe längst leer. Ich weiß aber auch, dass Freundinnen und Freunde, die Arbeitsbedingungen aus dem Ausland kennen, begeistert waren, dass und wie schnell hier Unterstützung kam. Während wir auch gerne die umständliche deutsche Bürokratie sehen und uns darüber aufregen. Es ist wohl immer eine Frage der Perspektive.

Liebe und Zeug
Bilder: Simona Bednarek

Was würden Sie noch mal genauso machen, was vielleicht nicht mehr?

Ich habe eine Abholbank vor dem „Liebe und Zeug“ installiert mit einer Vertrauenskasse, wie sie in Dänemark üblich ist. Zu bestimmten Zeiten war ich im Laden und konnte mich über ein gekipptes Fenster über der Tür mit meinen Kundinnen unterhalten, was dankend angenommen wurde. Die Menschen hatten Redebedarf und ich war während der Kontaktbeschränkungen oft wochenlang die einzige außerhalb der Familie, mit denen sie sprechen konnten. Zusätzlich habe ich einen Lieferdienst eingerichtet und Bestellungen auf Rechnung möglich gemacht. Dann habe ich Tüten gepackt und die Rechnung in die Tüten gesteckt. Oft wurde ich gefragt, ob das klappt – ich hätte ja großes Vertrauen. Aber die Hannoveranerinnen sind toll: Es kam nichts weg. Auch in der Vertrauenskasse fehlte nie Geld. Über Instagram habe ich meine Produkte präsentiert und natürlich auch ganz klassisch einen Zettel mit meiner Telefonnummer an die Ladentür geklebt, über die ich erreichbar war. So konnte ich unterschiedlichen Kommunikationsvorlieben gerecht werden.

Ich hätte vielleicht mehr Umsatz machen können, wenn ich einen Onlineshop gehabt hätte. Aber es war meine persönliche Entscheidung: Ich wollte nichts übers Knie gebrochen schnell hochziehen, sondern Dinge tun, die ich sofort umsetzen kann. Ich denke in Krisen zwar lösungsorientiert, aber diese Zeit war keine, in der man 100 Prozent seiner Energie zur Verfügung hat. Natürlich macht man sich Sorgen und muss persönliche Dinge regeln. „Ganz einfach“ ist ein Onlineshop eben nicht zu führen, wenn man es richtig machen will. Suchmaschinenoptimierung, Fotos, Texte, ein Wirtschaftssystem, das Online- und „Offline“-Verkauf abdeckt … das ist im Grunde Arbeit für eine Vollzeitstelle. Mein Hauptziel ist aber nicht schneller Profit – ich mag den Kontakt mit Kunden und Produzenten. Menschen sind im Internet anders als im persönlichen Kontakt. Da bleibt etwas auf der Strecke, wenn man nur etwas verpackt und verschickt. Ich verschicke natürlich auch, aber da ist vorher immer ein persönlicher Austausch da, kein anonymer Bestellvorgang.

Was wünschen Sie sich für die kommende Zeit?

Ich würde mir wünschen, dass bei uns – ähnlich wie in Dänemark – mehr geimpft wird. Und dass eine Normalität entsteht und man sich wieder treffen kann, auch im „Liebe und Zeug“. Ich würde gerne wieder persönlich sehen können, dass Menschen Freude haben an den Dingen, die ich hier anbiete.

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