Dass Sprache das Denken formt, diese These ist nicht neu. Schon vor mehr als 70 Jahren beschrieb George Orwell in seinem dystopischen Roman „1984“ eine fiktive Gesellschaft, in der sich ein totalitärer Überwachungsstaat in die Kommunikation der Menschen einmischt. Nur noch in „Neusprech“ dürfen Bürger:innen schreiben und reden. Das Regime will alle Worte für Handlungen und Vorstellungen ausradieren, die seinen Plänen im Weg stehen. Denn: Wer nicht an Widerstand denken kann, wird auch keinen anzetteln, lautet eine Idee hinter der Maßnahme.
Auch abseits der Literatur ist Sprache ein emotionales Thema. Das wird unter anderem dann deutlich, wenn Menschen in sozialen Medien im Zusammenhang mit dem Gendern von einer diffusen „Sprachpolizei“ reden. Dabei ist mittlerweile in Deutschland gesetzlich anerkannt, dass es nicht nur Männer und Frauen gibt. Auch Menschen, die sich keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen können, gilt es, sprachlich darzustellen. Insbesondere Medienschaffende wie Journalist:innen kommen um das Thema Diversität in der Sprache nicht mehr herum. Denn Sprache formt – wie Orwells Roman zeigt – das Denken. Neben dem Gendern ist es wichtig, keine Stereotype zu verbreiten, verschiedene Lebenswirklichkeiten zu präsentieren – und auch immer wieder die eigene Sicht auf die Welt zu hinterfragen. radius/30 hat drei Expert:innen gefragt, warum es für Medienschaffende so wichtig ist, die Vielfalt der Gesellschaft in ihren Artikeln und Beiträgen zu berücksichtigen, wie das gelingt – und was in Zukunft noch auf die Branche zukommen könnte.
Die Kommunikationswissenschaftlerin, Prof. Annika Schach
Wie wichtig ist es, dass Journalist:innen auf sprachliche Diversität achten? Dazu liefert Prof. Annika Schach eine Antwort. Sie lehrt an der Hochschule Hannover Public Relations (PR) und ist Geschäftsführerin der Kommunikationsberatung „Segmenta Futurist:a“.
Frau Schach, was verstehen Sie unter Diversität in der Sprache?
Diversität in der Sprache umfasst zwei Ebenen, die inhaltliche und die sprachliche. Bezüglich des Inhalts geht es darum, keine diskriminierenden Inhalte zu kommunizieren oder Stereotype nicht zu reproduzieren. Hinsichtlich der Sprache kann man darauf achten, wie man die Formulierungen anlegt. Da gehört zum Beispiel gendergerechte Sprache dazu – und Inklusion. Letzteres bedeutet, Sprache so anzubieten, dass sie von allen Menschen verstanden werden kann. Darunter fallen die Konzepte einfache oder leichte Sprache, aber auch Barrierefreiheit wie etwa das Untertiteln von Videos, damit auch gehörlose Menschen sie verstehen können.
Gibt es Argumente seitens Kommunikationsforscher:innen, warum Journalist:innen gendern sollten?
Grundsätzlich gibt es Studien, die zeigen: Die rein männliche Form, also das generische Maskulinum, wird sehr oft rein männlich verstanden. Wenn man als Journalistin oder Journalist für eine breite Zielgruppe schreiben möchte, ist es wichtig, dass sich alle angesprochen fühlen, damit sie die Inhalte auch wirklich lesen. Also sollten sie möglichst umfassend formulieren.
Kritiker:innen merken an, Sonderformen wie das Gendersternchen verkomplizierten Texte.
Ja, es geht hier auch um stilistische Fragen. Der Text sollte leserlich und ansprechend formuliert sein. Dafür ist Sprachgefühl nötig – aber das besitzen Journalistinnen und Journalisten sowieso. Es gibt viele Möglichkeiten, etwa Partizipien, einen Text inklusiver zu gestalten. Sonderformen beziehen auf der einen Seite das dritte Geschlecht mit ein. Auf der anderen Seite sparen sie gegenüber der Nennung der männlichen und weiblichen Form schlichtweg Platz.
Die Stadt Hannover nutzt mittlerweile das Gendersternchen. Sie haben diese Entwicklung als Leiterin der Kommunikationsabteilung begleitet. Wie haben Sie die Berichterstattung über dieses Thema wahrgenommen?
Wir waren doch beeindruckt, welche großen Wellen dieses Thema geschlagen hat. Weil wir die erste Landeshauptstadt waren, die das Sternchen eingeführt hat, gab es bundesweit und sogar in der „New York Times“ und in russischen Medien Berichterstattung. Insbesondere in Social Media haben die Leute viel über das Gendersternchen diskutiert.
Sie haben Pressemitteilungen mit Gendersternchen herausgegeben. Haben die Journalist:innen diese Art zu formulieren für ihre Artikel übernommen?
In der Regel nicht. Meist sehen die Redaktionsrichtlinien keine Verwendung des Gendersternchens vor. Und sowieso, in Deutschland gibt es keine öffentliche Instanz, die entscheidet, wie jeder und jede schreiben muss. Der Duden und der Rat für deutsche Rechtschreibung geben zwar Empfehlungen. An sich sind aber alle in ihrem privaten Umfeld frei, zu schreiben und zu sprechen, wie sie möchten – und das ist auch gut so.
In einem anderen Interview sagten Sie: „Das generische Maskulinum hat in der Unternehmenskommunikation keine Zukunft“. Wie lautet Ihre Einschätzung für die Zukunft des Journalismus?
Das grundsätzliche Thema in der Kommunikation ist, dass man verstanden werden möchte. Wenn die Nennung von Männern und Frauen oder das anderweitige Aufbrechen des generischen Maskulinums sich immer weiterentwickeln, dann wird es irgendwann den Menschen komisch vorkommen, wenn in einem Text nur eine Person erwähnt wird. Sie werden sich fragen: Sind hier nur Männer gemeint? Ich denke, es wird einen Wandel geben und Journalistinnen und Journalisten werden sich weiterführend mit gendergerechter und inklusiver Sprache auseinandersetzen müssen.
Die Gewerkschafterin, Christiane Eickmann
Als Geschäftsführerin des Deutschen Journalistenverbandes (DJV) Niedersachsen hat Christiane Eickmann den Überblick, wie es um die Diversität in der Berichterstattung des Bundeslandes steht. Die ehemalige Journalistin sagt: Da ist noch Luft nach oben.
Frau Eickmann, der Platz in der Zeitung sowie Sendezeit im Radio und Fernsehen sind begrenzt. Ist es da nicht einfach die pragmatische Lösung, von „Ärzten“ statt „Ärztinnen und Ärzten“ zu sprechen?
Ja, pragmatisch ist das in jedem Fall. Ich selbst nenne beim Sprechen beide Geschlechter. Beim Schreiben verwende ich aber meist eine Form des „*innen“. Ich finde, das liest sich weniger umständlich, als männliche und weibliche Form zu nennen, ist platzsparend – und bezieht alle Geschlechter mit ein.
Inwieweit sind sprachliche Diversität und Gendern für Journalist:innen und ihre tägliche Arbeit relevant?
Medienschaffende sollten zumindest über dieses Thema nachdenken, statt mit Abwehr zu reagieren. Menschen, die wie Journalist*innen mit Sprache arbeiten, müssen sich darüber bewusst sein, dass Sprache die Wirklichkeit abbilden sollte, aber auch eine Wirklichkeit schafft.
Wie meinen Sie das, eine Wirklichkeit schaffen?
Wenn zum Beispiel immer nur von Ärzten die Rede ist, wirkt es so, als seien in der Mehrzahl Männer in diesem Beruf tätig. Daraus kann ein Teufelskreis entstehen. Menschen vertrauen vielleicht Ärzten mehr als Ärztinnen. Redakteur*innen fragen vermehrt Ärzte an, die dann in Medien auftauchen. So wird dieses Bild reproduziert. Für Kinder und Jugendliche fehlen dann außerdem nicht-männliche Vorbilder, ob im Sport oder bei der Berufswahl. Wirkt ein Bereich total männlich dominiert, dürfte das Mädchen nicht gerade ermutigen, sich dort auszuprobieren.
Als Gewerkschaftschefin des DJV Niedersachsens haben Sie einen Überblick über die hiesige Medienlandschaft. Wie ist denn der Stand beim Gendern in den Redaktionen des Bundeslandes?
Bei den niedersächsischen Tageszeitungen fällt mir keine ein, die grundlegend in ihren Texten gendert. Die Nennung beider Geschlechter oder Partizipien liest man immer wieder. Ich kann natürlich nicht in die Köpfe der Kolleg*innen gucken – sicherlich diskutieren sie in den Redaktionen darüber, wie Sprache inklusiver gestaltet werden kann. Einige Titel greifen auch immer wieder Themen aus diesem Bereich oder ähnlichen Bereichen auf und berichten etwa über Hate Speech.
Print, Audio oder Video: Was halten Sie in der Praxis bezüglich gendergerechter Sprache und Diversität in Zukunft noch für umsetzbar?
Wie ich gerade sagte: Im Print ist in Niedersachsen noch sehr viel Luft nach oben bei der Sprache. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk nehme ich eine Ausprobierphase wahr: Sogar einige prominente Nachrichtenmoderator*innen wie Claus Kleber gendern ab und zu – aber noch nicht alle. Das finde ich aber gar nicht schlecht, so gibt es einen Übergang hin zu geschlechtergerechterer Sprache.
Besonders in Bild und Video sollte Diversität nicht nur über die Sprache dargestellt sein, sondern auch, indem etwa möglichst verschiedene Menschen gezeigt werden. Egal in welcher Mediengattung: Die Sensibilität für diskriminierende Berichterstattung ist meines Erachtens höher als vor einigen Jahren. Am besten wäre es natürlich, wenn Redaktionen genauso vielfältig besetzt wären, wie es ihre Leserinnen, Hörerinnen und Zuschauer*innen sind.
Der Aktivist, Keywan Tonekaboni
Nicht nur, wie wir schreiben, ist wichtig – sondern auch, wer Raum in der medialen Berichterstattung bekommt und wer in Redaktionen arbeitet, sagt Keywan Tonekaboni. Der Journalist und Medientrainer engagiert sich in der hannoverschen Gruppe und im Bundes-Vorstand der Neuen Deutschen Medienmacher*innen. Das Journalist:innen-Netzwerk setzt sich für mehr Vielfalt in Redaktionen und diskriminierungsfreie Berichterstattung ein.
Herr Tonekaboni, auf der hannoverschen Webseite der Neuen Deutschen Medienmacher*innen (NdM) gendern Sie mit Doppelpunkt. Warum eigentlich?
Wir haben uns bei den NdM darauf geeinigt, mit dem Sternchen zu gendern. Teilweise nutzen wir aber auch den Doppelpunkt. Entgegengesetzt der Aussagen von lautstarken und polemischen Kritiker:innen existiert keine Vorgabe – sondern die ganze Gesellschaft ist in einem Findungsprozess, wie man adäquat gendern kann. Das Wichtige jedenfalls ist, dass man sich mit dieser Thematik auseinandersetzt und nicht, welche Art des Genderns man wählt. Es geht darum, alle Menschen in Texte einzubeziehen und mitzudenken.
Wieso ist das wichtig?
Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Ist ein Text nur im sogenannten generischen Maskulinum formuliert, blendet er mindestens die Hälfte der Gesellschaft aus. Zu gendern ist also auch präziser. Außerdem formt die Sprache das Denken. Bildet man die Vielfalt der Gesellschaft sprachlich nicht ab, werden viele Leute und Perspektiven leicht vergessen.
Einige Kritiker:innen sagen, Gendern sei nur ein kosmetisches Mittel. Es lenke von den eigentlichen Problemen wie ungleicher Bezahlung von Männern und Frauen oder Sexismus ab. Was meinen Sie dazu?
Diese Probleme gibt es ohne Zweifel. Um sie zu lösen, reicht es nicht, Gendersternchen zu benutzen. Allerdings, das Gendern hält niemanden davon ab, gleichzeitig auch gegen elementare Probleme wie die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts anzugehen. Ich möchte noch einmal betonen: Sprache formt das Denken. Wenn ich schon nicht den ersten Schritt mache, nämlich diese Leute mitzudenken, dann habe ich vielleicht gedanklich gar nicht den Einblick in deren Lebensperspektive. Oder ich bleibe verhaftet in alten Geschlechterklischees.
Die NdM haben kürzlich einen Diversity-Guide veröffentlicht. Darin geht es nicht nur darum, angemessener zu schreiben – sondern auch darum, Redaktionen diverser zu besetzen. Dazu zählt etwa, nicht männliche oder migrantische Mitarbeiter:innen sowie Menschen mit Behinderung in Führungspositionen zu holen. Beides ist also wichtig. Wir müssen gesellschaftliche Probleme angehen, aber auch sprachlich präzise über die Welt reden.
Wieso sollten Führungspositionen vielfältig besetzt sein?
Einerseits zeigt das anderen Menschen aus einer ähnlichen gesellschaftlichen Gruppe, dass auch sie diesen Weg einschlagen können. Diese Leute bringen wiederum in einer Redaktion andere Perspektiven und Themen ein. So gelingt eine präzisere Abbildung der Realität. Außerdem wird das Medium vielleicht für eine neue Zielgruppe interessant, wenn deren Perspektive auf einmal Teil der Berichterstattung ist.
Bezüglich der Diversität in den Medien: Was würden Sie sich in Zukunft noch wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass Redaktionen in ihrer personellen Zusammensetzung und Berichterstattung vielfältiger werden. Auch würde ich mir weniger gedankliche Verkürzungen wünschen: etwa, nicht mehr Migration als alleinige Erklärung für alle möglichen negativen Sachen heranzuziehen. Mehr Offenheit und Selbstreflexion wären zudem wünschenswert.
Aber offen zu sein ist doch ein Grundpfeiler des Berufs der Journalist:innen. Nehmen Sie da ein Defizit wahr?
Natürlich gehört es für Journalist:innen dazu, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Die Realität sieht mancherorts dann doch ein bisschen anders aus. Gründe sind etwa Zeitdruck oder dünn besetzte Redaktionen. Dabei ist es so wichtig, etwa in journalistischen Texten auch von einem Thema Betroffene zu Wort kommen zu lassen – und nicht nur Expert:innen – oder sich nicht ausschließlich auf Informationen von Behörden zu verlassen. Journalist:innen sollten sich der eigenen, begrenzten Vorstellungen klar werden. Wir haben alle Stereotype im Kopf, das ist ganz normal. Aber sie dürfen nicht zu Vorurteilen werden.
Text: Sarah Franke