Ein Plädoyer für den Herbst

10. Oktober 2024 / Gesellschaft

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Mit der dritten Jahreszeit beginnt bei vielen Menschen eine Phase der Wehmut. Vorbei sind die lauen Sommernächte, stattdessen klatschen Regentropfen vom grauen Himmel. Der Herbst hat einen besseren Ruf verdient, meint unsere Autorin Sarah Franke – und zwar nicht nur, weil er golden ist.

Krächzend flattern Vogelschwärme über den Maschsee. Sie fliegen gen Süden, sie fliehen vor den immer kürzeren und kälteren Tagen. Voller Wehmut schauen ihnen einige Spaziergänger*innen hinterher. Sie vermissen, schon jetzt, die Hitze und die Heiterkeit des Sommers. Der Herbst hat nicht den besten Ruf. Zu Unrecht, wie ich finde.

Memento mori statt Carpe diem. Also: „Bedenke, dass du sterben wirst“ statt „Nutze den Tag“. Vielleicht trägt zur Unbeliebtheit des Herbsts bei, dass er uns Menschen die Vergänglichkeit vor Augen führt. Halb vertrocknete, rostrote Blätter segeln von Ästen gen Boden. Durch den Georgengarten, in dem sich vor ein paar Wochen noch dicht an dicht Menschen auf Picknickdecken fläzten, hasten jetzt nur noch ein paar Joggerinnen und in Mäntel eingemummelte Gassigeherinnen, begleitet von ihren Hunden. Alles wird weniger, irgendwie.

Am unbeliebtesten, gemeinsam mit dem Januar, ist der Monat November. Das haben Meinungsforscher*innen des Instituts YouGov herausgefunden. Mich, eine November-Liebhaberin, überrascht das nicht. Menschen reagieren auf meine Vorliebe für den elften Monat des Jahres mindestens irritiert, meist sogar mit völligem Unverständnis. Doch ich liebe die Nebelschwaden, die Düsternis und die Melancholie.

Es ist eine Zeit zum Luftholen, zum Aufatmen: zwischen dem Sommer und dem glühweingetränkten Advent voller Weihnachtsfeiern und Familienfeste. Will ich den Abend bei November-Nieselregen drinnen allein auf der Couch mit einer dampfenden Tasse Tee statt, wie an lauen Sommerabenden, mit einem kühlen Glas Weißwein in einer Bar in der Altstadt verbringen, runzeln viel weniger Menschen die Stirn. Stattdessen entweicht meinem Gegenüber oft nur ein mitfühlendes „Ach“.

Der November, er fühlt sich an wie ein kollektiver Seufzer im Kalender. Die Erwartung daran, was wir alles erleben, wo wir überall dabei sein sollten, sie sinkt von September bis November konstant.

„Der Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit. Winter, Frühling und Sommer sind auch okay, aber der Herbst ist magisch. Der Herbst ist ein Magier, der alles verzaubert. Er hüllt die Welt in Wind, Nebel und Regen, und es riecht nach Leben. Grün wird zu Feuer. Manchmal wirkt das Feuer braun und grau an einem regnerischen Tag. Aber dann kommt an dem braungrauen Tag die Abendsonne heraus, und alles leuchtet golden und glitzert.“

Diese Worte denkt Tilda, die Protagonistin in Caroline Wahls Roman „22 Bahnen“. Ich kann Tilda verstehen, sehr sogar. Zwar schaue ich ebenso gern in den typisch grau-verwaschenen Wolkenhimmel, von drinnen aus, wenn Regentropfen an die Fensterscheibe klatschen. Doch besonders viel Sympathie sammelt der Herbst, wenn er seinem Ruf als goldene Jahreszeit gerecht wird. Zwar werden die Tage kürzer und kälter, das Licht wird dafür umso wärmer. Wer jetzt durch die Eilenriede oder den Tiergarten spaziert, ist von warmen Farben, ist von orange-rot-gelbem Laub umgegeben.

Doch nicht nur für die Augen ist der Herbst ein Fest. Das Rascheln des Laubs unter den Stiefelsohlen. Der dumpfe Klang einer Eichel, die auf den Boden kracht. Matschige Waldwege, die erdig duften. Saftige Äpfel, gepflückt direkt vom Baum. Der Herbst ist eine Zeit für die Sinne, eine Zeit der Sinnlichkeit. Auf sommerlichen Überfluss folgt Überdruss. Nach einer Zeit voller Feierei beginnt die leise Phase des Jahres. Wer nun genau hinhört, wird viel entdecken: in der Natur, aber auch in sich selbst.

In der Psychologie ist längst bekannt: Niemand kann stetig glücklich sein. Ohne Tiefen keine Höhen. Ohne Melancholie im Herbst keine Leichtigkeit im Frühling? „Unsere Gehirne sind nicht dafür gemacht, dass wir ständig glücklich sind“, schreibt der Psychotherapeut William Berry im Online-Magazin „Psychology today“. Das sei auch wichtig: Denn wer ständig glücklich ist, dem fehle jegliche Motivation, sich zu bewegen – ob im Wort- oder übertragenen Sinn.

Selbst für die Herbst-Muffel findet sich ein Tipp in Berrys Text. Der Psychotherapeut rät, sich in Akzeptanz und Gleichmut zu üben. Denn eines sei gewiss: Stimmungen vergehen – übrigens genauso wie Jahreszeiten. Es empfiehlt sich allerdings, aus beidem das Beste zu machen.

Text: Sarah Franke

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