Text und Bilder: Sascha Priesemann
Die Zeiten von Harry Potter, Schnatz und fliegenden Besen sind vorbei – seine Magie hat Quadball dennoch nicht verloren. Die Vollkontaktsportart hat sich von Hogwarts Quidditch emanzipiert und ragt mit einer einmaligen Gender-Regel hervor. Ein Besuch bei den Hannover Cyborgs in Döhren.
Das Flutlicht strahlt auf den nassen Rasenplatz des FC Schwalbe Döhren. Trainingstag für die Hannover Cyborgs – Akira gibt den Spielzug im leichten Denglisch vor: „Wir trainieren mit ungeladenen und geladenen Beatenden und versuchen, in der Offense zu scoren.“ Sechs runde Ziele, zwei unterschiedliche Bälle, eine Flag an der Hose, vier Stirnbänder und fünf Rollen – beim Quadball verlieren Außenstehende schnell den Überblick. „Das sieht nur kompliziert aus“, beruhigt Akira, „es ist aber eigentlich total simpel.“ Fans der Harry-Potter-Filme und -Bücher dürften das Prinzip schnell verstehen: Denn Quadball hieß mal Quidditch. Das fiktive Spiel, bei dem die Zauberschüler und Zauberschülerinnen aus Hogwarts mit ihrem Besen durch die Luft fliegen – und den goldenen Schnatz jagen.
Kein Harry Potter mehr: Quadball will eine ernsthafte Sportart sein
Das echte Spiel entwickelten zwei Studenten vor 20 Jahren in den USA – es ist die Muggel-Variante der Sportart. So heißen in der magischen Welt von Harry Potter die Menschen ohne Zauberkräfte. Zwischen den Oberschenkeln klemmen den Hannover Cyborgs beim Spiel demnach auch keine fliegenden Besen, sondern simple Stangen. „Unser Trainer Ammon versucht zwar immer, uns das Fliegen beizubringen. Er hat es aber noch nicht geschafft“, scherzt Akira. „Das ist auch besser so, denn ich habe Höhenangst.“ Vom Quidditch hat sich Quadball längst emanzipiert. Begriffe wie Schnatz oder Quaffle kommen nicht mehr vor. „Wir wollen zeigen, dass wir eine ernsthafte Sportart spielen – und nicht nur irgendwas aus einem Film nachspielen“, erklärt Hannah, Chaserin bei den Cyborgs. Hinzu kamen die Äußerungen von Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling, welche die queer-freundliche Community beim Quadball als transfeindlich empfindet. Zudem barg der Name Quidditch das Risiko von Lizenzstreitigkeiten mit den Filmemachern von Warner Bros Discovery.
Geschadet hat der neue Name aus Sicht der Cyborgs nicht. „Ich kam damals wegen Harry Potter zum Sport, geblieben bin ich aber wegen der Menschen“, beschreibt es Hannah. Auch die Cyborgs hießen mal anders: Bis Mitte 2023 waren sie als die Hannover Nifflers bekannt – ein magisches Tierwesen aus den Harry-Potter-Filmen. Auf den Trikots von Hannovers einzigem Quadball-Team prangt nun ein violettes löwenähnliches Fabelwesen mit Cyborgelementen. Sie nennen es Rolf.
Einzigartige Gender-Regel
Nicht zu übersehen sind die Regenbögen. Sie zieren zahlreiche Trikots, Armbänder oder Fahnen – ein Zeichen der Vielfalt. „Quadball steht allen Geschlechtern offen“, sagt Akira. Um den Satz zu verstehen, muss man den Unterschied zwischen dem biologischen und sozialen Geschlecht kennen. Das biologische Geschlecht wird einem Menschen aufgrund sichtbarer oder messbarer Aspekte zugewiesen. Also zum Beispiel Hoden, Penis oder das Hormon Testosteron beim Mann. Beim sozialen Geschlecht geht es um die typischen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Männern oder Frauen von der Gesellschaft zugewiesen werden. Etwa bei traditionellen Rollenbildern oder Männer- und Frauen-Abteilungen im Kaufhaus. Biologisches und soziales Geschlecht stimmen nicht immer überein. Es ergibt sich eine Vielzahl an Geschlechtsidentitäten. Beim Quadball sind sie das entscheidende Kriterium. Gespielt wird in gemischten Teams. Maximal drei der sechs Spieler*innen auf dem Feld dürfen sich einem Geschlecht zugehörig fühlen. „Die Community ist total offen und voller netter Menschen“, betonen die Cyborgs unisono.
Quadball ist reich an Elementen von anderen Sportarten. Mit einem Volleyball muss man mit Würfen ähnlich wie beim Handball in einen von drei Hoops werfen. Die runden Ziele sind etwa so groß wie eine Familienpizza. Ein Treffer gibt zehn Punkte. Mit dem Dodgeball können Beatende wie beim Völkerball ihre Gegner*innen abwerfen. Die sind dann einen kurzen Moment aus dem Spiel genommen und müssen zu ihren Hoops zurückeilen. Und dann darf bei der Vollkontaktsportart auch noch getackelt werden – ähnlich wie beim Rugby. „Wir haben aber Regeln gegen übermäßige Härte und das wird auch konsequent geahndet“, sagt Akira.
Die Flag kann beim Quadball alles entscheiden
Interessant wird das Spiel aber, wenn ab Spielminute 19 eine unparteiische Person auf den Rasen läuft. An ihrem hinteren Hosenbund ist mit einem Klettverschluss eine Flag befestigt – ein Tennisball, der in einer Art Socke steckt. Früher war es der Schnatz, der nicht selten über Sieg oder Niederlage entscheidet. Die Flag zu schnappen, ist die Aufgabe der Seeker*innen – und bringt 30 Punkte. Je nachdem, welches Team die Flag fängt und wie der Spielstand ist, muss danach eine Verlängerung entscheiden. „Das macht den Sport sehr vielfältig und spannend“, erklärt Akira. Die Plastikstäbe, die zwischen den Oberschenkeln klemmen, sind ebenfalls keine Deko. Sie dienen dazu, die Ballkontrolle und das Laufen schwieriger zu gestalten.
Neulinge können in der Regel direkt mittrainieren und verschiedene Rollen austesten. Die Grundzüge des Quadballs seien einfach zu erlernen, sagt Akira: „Es gibt Leute, die sich auf eine bestimmte Rolle konzentrieren, aber auch welche, die sich nicht festlegen.“ Vier Positionen hat jedes Team zu bekleiden – zu erkennen an unterschiedlich gefärbten Kopfbändern. Akira trägt meist ein grünes in der Rolle der Keeper*in. Es ist die einzige Person eines Teams, die nicht von dem Beatenden aus dem Spiel genommen werden darf.
Ein Mindestmaß an Beklopptheit
Bei so vielen Rollen kann es in der Urlaubszeit nicht selten schwierig werden, alle Positionen zu trainieren. Nur vier Cyborgs sind an diesem Donnerstagabend auf dem Trainingsplatz in Döhren. Sonst seien es mehr – dennoch kann auch das Team aus Hannover nicht eigenständig am Spielbetrieb teilnehmen, erklärt Akira. Vergangene Saison spielten sie mit Magdeburg in einer Spielgemeinschaft und wurden in der Ost-Liga Fünfter. „Wir freuen uns immer, wenn wir neue hinzubekommen“, sagt Hannah. Die 25-Jährige gehört zum deutschen Entwicklungsteam – nah dran an der Nationalmannschaft. Rund 35 Quadball-Teams gibt es bundesweit.
Am 16. November startet die neue Spielzeit für die Cyborgs. Dieses Mal kämpfen sie zusammen mit Magdeburg in der Nord-Liga um Punkte. Das nächste Highlight folgt traditionell im Frühjahr. Am 5. April veranstalten die Cyborgs ihren Fools Cup – ein Spaßturnier. Und der Spaß ist beim Quadball eigentlich immer wichtiger als die Resultate. „Hier haben alle so ein Maß an Mindest-Beklopptheit“, sagt die Cyborgs-Beaterin Lotti: „Ich wollte einen Sport machen. Hier habe ich Spaß und die Leute sind cool.“