
Text: Bernd Schwope
Die Ärzte im Ruhestand Dr. Ricarda und Dr. Udo Niedergerke setzen sich mit ihrer Stiftung für die medizinische Versorgung von Obdachlosen und von Menschen in Not ein. Wie sie dazu gekommen sind, was sie antreibt und warum ein Zitat von Papst Franziskus bei der Verleihung des Karlspreises mehr als Headline taugt als eigene Aussagen, erzählten die beiden radius/30.
radius/30: Auf Ihrer Homepage habe ich gelesen, Sie wären erstaunt, immer wieder diese eine Frage gestellt zu bekommen: Warum Sie als ehemalige Ärzte eine Stiftung für wohnungs- und obdachlose Menschen gegründet haben? Dennoch muss ich fragen: Sie hätten sich doch auch in einer Kunststiftung engagieren können? Stattdessen haben Sie einen Teil ihrer Kunstsammlung versteigern lassen. Und so 80.000 Euro Startkapital für Ihre Stiftung generieren können. Warum?
Dr. Udo Niedergerke: Ärzte, auch wenn sie sparsam leben und fleißig arbeiten wie wir, haben am Ende nicht so viel Geld, um eine Stiftung zu gründen.
Hör ich da einen gewissen Sinn für Ironie heraus?
Dr. Ricarda Niedergerke: Aber klar, der Humor gehört zu uns. Sonst wären wir nicht 50 Jahre glücklich verheiratet.
U. N.: Es ist sogar ein wenig länger. Stellen Sie sich das mal vor.
Wie haben Sie sich kennen gelernt?
U. N.: Beim Studium in Münster. Und zwar im anatomischen Institut an der Leiche. Ich war ein paar Semester weiter. Ich war Vorpräparant und durfte meiner zukünftigen Frau zeigen, wie man mit Skalpell und Pinzette umgeht. Sie hat damals noch auf mich gehört. Das hat sich aber sehr bald dramatisch geändert. Ich verdiente 350 D-Mark im Monat.
R. N.: Das war für uns viel Geld.
U. N.: So gesehen war das damals aus der Sicht meiner Frau eine reine Geldhochzeit (lacht). Der anatomische Sezierkurs findet verständlicherweise immer im Winter statt. Diese Winter waren damals kalt. Ich hatte einen kleinen Motorroller und meine Frau hatte einen himmelblauen Opel Kadett. Zu unserer Zeit war das etwas ganz Außergewöhnliches. In Münster fuhren und fahren ja alle Fahrrad.
R. N.: Und es gab in unserem Semester nur sechs Frauen, aber mehr als 200 junge attraktive Studenten. Ich hatte die große Auswahl.
U. N.: Für mich war es also ein Riesenglück, dass ich überhaupt eine Frau gefunden habe. Und dann noch eine mit einem himmelblauen Opel Kadett.
R. N.: Ich habe sofort signalisiert, auf den Motorroller steige ich nicht. Das ist zu gefährlich, zu kalt. Und dann muss ich als Hinterbänklerin noch Halt suchen an dem, der mich lenkt. Nein, das ging zu weit. In eine solche Abhängigkeit wollte ich mich nicht begeben. Also stiegen wir um in mein himmelblaues Auto. Das haben wir bis heute nicht bereut. Und der Winter wurde unsere liebste Jahreszeit.
U. N.: Das mündete in eine Ehe, die inzwischen über 50 Jahre währt. Wir beendeten das Studium in Münster. Und unser Weg führte uns nach Hannover. Die neu gegründete Medizinische Hochschule war der Magnet.
R. N.: Ich war damals noch Studentin. Wir führten einige Zeit eine Wochenendehe.
U. N.: Wir waren alle ein wenig links gestrickt. Parität, Mitbestimmung, niedrige Hierarchien: Das waren Dinge, die uns angezogen haben und uns wichtig waren. Bei einer neuen Hochschule, die all das verwirklicht, musste ich mich einfach bewerben. Als ich zum Vorstellungsgespräch kam, lag ein ein Meter hoher Stapel an Bewerbungen auf dem Schreibtisch von Prof. Fritz Hartmann, dem damaligen Leiter der Hochschule. Er sagte: Aus diesem Stapel habe ich Sie herausgeholt. Kurzum: Er hat das einzig Richtige getan für die Hochschule: Er hat mich genommen.
Wie ging es weiter?
R. N.: Wir sind nach Bemerode gezogen – in einen Stadtteil, in dem viele Assistenten der Hochschule wohnten. Es war eine sehr fruchtbare und sehr schöne Zeit. Alles war im Aufbruch, alle hatten neue Ideen.
U. N.: Wir wollten diesen Muff von 1.000 Jahren vertreiben. Das ist uns – denke ich – auch gelungen. Ich bin dann nach meiner Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin als Oberarzt an die Ruhruniversität nach Bochum gegangen. Da fand ich aber genau die Strukturen vor, die wir abschaffen wollten, die erstarrten Hierarchien. Deswegen war Bochum auch nur ein kurzes Intermezzo. Schließlich bekamen wir einen Anruf von dem Leiter der Bezirksstelle Hannover, Dr. Hans-Ferdinand Gehre, ob wir nicht wieder zurückkommen wollten. In Misburg war eine Praxis frei geworden. Auch wenn wir einen ganz anderen Plan für unsere Karriere hatten, haben wir zugesagt. Frohen Herzens zugesagt. Zurück nach Hannover.
War das eine schwere Entscheidung, sich von einem großen Unternehmen zu verabschieden und eigenverantwortlich zu arbeiten?
R. N.: Nein, wir hatten schließlich uns. Und die Aussicht, die Freiheit zu haben, eigene Entscheidungen zu treffen und zu realisieren, war verlockend. Ich wollte aber auf keinen Fall dasselbe Fachgebiet nehmen wie mein Mann. Mein Mann ist Internist und Rheumatologe. Also beschloss ich, mich auf ein anderes Gebiet zu spezialisieren. Ich bin Frauenärztin geworden. Das war auch im Nachhinein betrachtet eine gute Entscheidung. Wir hatten unterschiedliche „Arbeitsfelder“. Unsere Praxen in Misburg lagen auf einer Etage nebeneinander, aber getrennt.
Ein getrennter Geschäftsbereich, aber mit Synergieeffekten?
U. N.: Ja. Es gab durchaus Überschneidungen. Wenn etwa schwangere Diabetikerinnen bei meiner Frau waren, konnten sie zu mir zur Einstellung kommen. Wir sind sehr fleißig gewesen, fingen um sieben Uhr morgens an. Und haben abends um sieben immer noch gearbeitet. Da kamen Hausbesuche noch dazu. Wir müssen aber auch zugeben: Wir haben keine Kinder. Der Beruf war unser Lebensinhalt.
R. N.: Sie müssen sich das so vorstellen: Die schicken Damen mit High Heels gingen rechts in meine Praxis. Die sich mit dem Rollator die Treppe hochquälten, kamen zu meinem Mann. Ich sage immer: Augen auf bei der Berufswahl. Aber die Synergie war toll. Abends sind wir dann gemeinsam essen gegangen und haben uns ausgetauscht.
Nun müssen Sie mir aber noch verraten, wie man nach einem erfüllten Arbeitsleben dazu kommt, eine Stiftung zu gründen?
U. N.: Wir lieben die Menschen in all ihren Facetten. Ich wollte sie in ihrer Vielfalt in der Praxis täglich erleben. Deshalb war ich trotz meiner Zusatzbezeichnungen als Hausarzt tätig. Da war Misburg ideal. Das war ganz toll. Jeder Mensch, der in eine Praxis geht, ist ein Mensch in Not. Aus Jux und Dollerei geht keiner zu einem Arzt. Insofern war es nur folgerichtig, nach Aufgabe unserer Praxen 2007 für Menschen in Not weiterhin tätig zu sein.
Sind Sie sofort nach dem Beruf in das Stiftungswesen eingestiegen?
R. N.: In den Jahren nach dem Beruf haben wir weiterhin die Welt bereist. Bis auf Nordkorea waren wir fast überall. Warum erzähle ich das? Auf einem Flug nach Äthiopien – nach Äthiopien fliegen nicht viele Menschen – kamen wir ins Gespräch mit den Stewardessen, die fragten, warum wir denn ausgerechnet hierher fliegen? Äthiopien ist eines der ärmsten Länder der Welt; AIDS ist ein riesiges Thema. Wir erzählten, dass wir Ärzte sind. Daraufhin meinten die Stewardessen, dass wir nicht nur durch das Land fahren, sondern auch was tun sollten. Sie organisierten einen Besuch im Black Lion Hospital, dem größten Krankenhaus in Addis Abeba. Der Direktor erzählte uns von der Not und von dem, was sie alles benötigen. Wir sind durchs Krankenhaus geführt worden. Das war wirklich ein Jammer. Das größte Krankenhaus Äthiopiens hatte nicht mal eine funktionierende Intensivstation. Zusammen mit der Universität Göttingen haben wir dann ein Beatmungsgerät für 30.000 D-Mark besorgt. Die Göttinger sind sogar noch mit runtergeflogen und haben erklärt, wie das Gerät funktioniert. Wir haben aber nie wieder etwas aus Äthiopien gehört. Da haben wir uns gesagt, wenn wir wieder mal so etwas planen, dann nur in der Region Hannover. Nicht weltweit. Dort, wo wir den Weg des Geldes verfolgen können.
Sie wollten sich sicher sein, dass Ihre Investition auch bei den betroffenen Menschen ankommt?
U. N.: Auf jeden Fall. Ich war Mitglied bei Round Table, einer Organisation, in der man sich in „Service-Projekten“ sozial engagiert. Einer der Tabler war im Vorstand der Bürgerstiftung Hannover. Er schlug vor, kommt doch zu uns, wir machen eine Stiftung unter dem Dach der Bürgerstiftung. Da wir uns als Ärzte nicht mit dem juristischen Part rumschlagen wollten und konnten, waren wir über den Vorschlag sehr glücklich und sind es noch immer. Wir haben die Aufgaben geteilt und sorgen für die Spenden.
Wie funktioniert das genau?
U. N.: Wir sind eine Treuhandstiftung der Bürgerstiftung Hannover. Das klappt wunderbar. Da wir einen finanziellen Stock für unsere Stiftung brauchten, haben wir die Kunstobjekte aus unseren Praxen in zwei Auktionen bei der Galerie Depelmann unter den Hammer gebracht. Eine Auktion hat Prof. Krempel vom Sprengel Museum durchgeführt, eine andere Veit Görner von der Kestnergesellschaft. Wir konnten über 80.000 Euro erlösen.
Von dem Geld hätten Sie sich auch einige Weltreisen finanzieren können?
R. N.: Hätten wir. Stattdessen sind wir vier bis sechs Wochen durch die Obdachlosenquartiere Hannovers gezogen; haben geschaut, wo die Not am größten ist. Unsere Idee war, helfen zu wollen. Ich habe mit dem Medizinstudium angefangen, weil ich helfen wollte. Insofern war dieser
Aspekt immer grundlegend da.
U. N.: Der materielle Wert hat bei unserer Berufswahl überhaupt keine Rolle gespielt. Da waren ganz andere Ideen oder Ideale, die uns bewegt haben. Es waren Menschen in Not, denen wir helfen wollten. Das mag kitschig klingen, war aber so.
R. N.: Ich habe im Studium Nachtdienst geschoben für 2 D-Mark die Stunde. Das spielte keine Rolle.
Das vollständige Interview mit Dr. Ricarda und Dr. Udo Niedergerke …
… finden Sie in der radius/30 Ausgabe September/Oktober.