Eva Birkenstock: „Ich habe mit der Zeit gelernt, meiner Intuition zu vertrauen“

12. November 2025 / Im Gespräch

Featured image for "Eva Birkenstock: „Ich habe mit der Zeit gelernt, meiner Intuition zu vertrauen“"
Bild: Nancy Heusel

Text: Bernd Schwope

Seit August diesen Jahres ist Eva Birkenstock Direktorin der Kestner Gesellschaft, einem der wichtigsten Orte für Gegenwartskunst in Deutschlands. Die 47-jährige Kunsthistorikern, Kuratorin und Museumsleiterin wechselte aus Aachen nach Hannover. Wir baten Eva Birkenstock zum Interview, das sie schriftlich beantwortete. Welche Ideen möchte sie verwirklichen? Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Wie beurteilt Sie den Stellenwert von Kunst in der heutigen Gesellschaft?

radius/30: Wie würden Sie einem Laien beschreiben: Was ist die Kestner Gesellschaft?

Eva Birkenstock: Die Kestner Gesellschaft ist zunächst ein Kunstverein – gegründet 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg. Allein dieser Gründungsmoment zeigt: Es ging von Anfang an um mehr als nur das Ausstellen von Kunst. Es ging um die bewusste Etablierung einer Institution für progressive Kunst und Kultur, für Offenheit, und ein kritisches öffentliches Denken – in einer Zeit der politischen und gesellschaftlichen Verhärtung.

Oft wird zu Recht die prominente Ausstellungsgeschichte hervorgehoben – von Kurt Schwitters oder El Lissitzky über Josef Beuys, Rebecca Horn bis zu Andy Warhol, oder in der jüngeren Gegenwart Barbara Kruger, Wolfang Tillmans und Paula Rego. Ebenso wichtig ist aber für mich die Haltung, die diese Institution in schwierigen Zeiten bewahrt hat. Während des Nationalsozialismus wurde die Kestner Gesellschaft nicht gleichgeschaltet, wie viele andere Einrichtungen. Sie hielt – soweit möglich – an ihrem Direktor Justus Bier fest und hat sich durch die Schließung der Vereinnahmung entzogen. Das war vielleicht kein politischer Widerstand im klassischen Sinne, aber eine Form kulturell-politischer Standhaftigkeit innerhalb eines autoritären, faschistischen Regimes. Diese Geschichte verpflichtet. Und schließlich handelt es sich bei der Kestner Gesellschaft in der Goseriede um einen der schönsten Orte in Deutschland um Kunst zu zeigen. Ich bin in die Räume einfach verliebt.

Wer darf sich vom Programm angesprochen fühlen?

Die Kestner Gesellschaft kann für mich alles sein: ein Ort für zeitgenössische Ausstellungen, Performances, Musik und Literatur, für Soziales, Diskurs und Begegnung – und natürlich auch ein Verein, der vom Engagement seiner Mitglieder und Förderer getragen wird. Ein offener Möglichkeitsraum also, in dem sich Kunst immer auch in Beziehungen manifestiert, die zwischen Menschen entstehen.

Wer sich angesprochen fühlen darf? Wer am Programm teilhaben kann? Eigentlich jede und jeder, der oder die interessiert ist. Wir möchten die breite Öffentlichkeit ebenso ansprechen wie das Fachpublikum. Und zum Nachdenken einladen über Fragen unserer Gegenwart, und zwar im Austausch von zeitgenössischer Kunst und einem möglichst breiten und diversen Publikum.

Gerade aktuell, wo demokratische Strukturen unter Druck geraten, sind Freiräume wie die Kestner Gesellschaft wichtiger denn je – Orte, an denen Kunst und Kultur, Vielfalt, Dialog und Begegnung wirklich gelebt und verhandelt werden.

Sie sind seit August in Hannover tätig: Wo sehen Sie Ihre vorrangigen Aufgaben? Welche eigenen Ideen wollen Sie verwirklichen?

Ganz grundsätzlich möchte ich an die hervorragende Programmatik meiner Vorgänger:innen anknüpfen und die „Bühnen“ des Hauses für ein möglichst breites Publikum öffnen. Wir möchten Teilhabe stärken und möglichst neue Besucher:innenkreise erschließen: Die „Kestner Kids“ wurden in den letzten Jahren deutlich gestärkt, inzwischen gibt es 250 Kindermitglieder, die als Erste unsere Ausstellungen sehen. In den kommenden Jahren wollen wir dieses Programm auf Jugendliche und junge Erwachsene ausweiten und auch sie verstärkt für das Haus gewinnen. Außerdem planen wir gezielte Angebote für unsere Mitglieder und Förderer.

Darüber hinaus steht die Reaktivierung des Cafés und eine neue Webseite auf der Agenda, ebenso wie die Entwicklung neuer Veranstaltungsreihen und die Bearbeitung des Archivs – auch in Kooperation mit umliegenden Kulturinstitutionen und Festivals. Gleichzeitig arbeiten wir parallel daran, das Haus finanziell und infrastrukturell zu stabilisieren, um auch langfristig handlungsfähig zu bleiben.

Wie beurteilen Sie den Stellenwert von Kunst und Kultur in der heutigen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Krisen?

In einer Zeit vielfältiger Krisen – ökologischer, politischer und sozialer Art – haben Kunst und Kultur derzeit einen schweren Stand. Öffentliche Haushalte sind angespannt, und wenn Prioritäten gesetzt werden müssen, trifft es den Kulturbereich oft als einen der ersten. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass Kunst und Kultur weit mehr sind als bloße Unterhaltung oder Luxusgüter.

Gerade in Krisenzeiten können sie zu Instrumenten der Reflexion, der Irritation und der Hoffnung werden. Kunst eröffnet Räume, in denen gesellschaftliche Fragen gestellt, Perspektiven gewechselt und neue Vorstellungen von Zusammenleben entwickelt werden können. Sie trägt dazu bei, das gesellschaftliche Bewusstsein zu schärfen und den Diskurs lebendig zu halten – auch und besonders in Zeiten eines „Kulturkampfs“ von rechts, in denen kulturelle Vielfalt und kritische Ausdrucksformen unter Druck geraten. Strukturen wie mitgliederbasierte Kunstvereine eignen sich dafür besonders gut, da das Gemeinschaftliche Teil ihrer Struktur ist und sie einen demokratischen Idealismus verkörpern.

Generell sind Kunst und Kultur für mich essenziell. Sie sind systemrelevant im tiefsten Sinne des Wortes, weil sie helfen, das System Mensch und Gesellschaft zu verstehen, zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.

Wie schätzen Sie den Stellenwert der Kestner Gesellschaft innerhalb der deutschen Kunstszene ein – und wo sehen Sie Unterschiede zu Städten wie New York oder Basel, in den Sie Ausstellungen organisierten?

Die Kestner Gesellschaft gehört zu den renommiertesten Häusern für Gegenwartskunst in Deutschland und hat eine wirklich breite internationale Strahlkraft. Bei den Gratulationen anlässlich meiner Berufung ist mir noch einmal deutlich geworden, wie bekannt das Haus auch international, weit über Hannover hinaus ist.

New York und Basel sind an sich schon sehr unterschiedliche Städte, aber in beiden bewegt man sich in einem breiten, diskursiven Feld der künstlerischen Produktion – in Basel passiert das vor allem einmal im Jahr, wenn die internationale Kunstwelt anlässlich der Art Basel vor Ort ist. In Hannover ist das sicher anders: Es gibt hier weder eine Kunstakademie noch eine Kunstmesse. Und trotzdem ist das Interesse an Kunst und Kultur sehr groß – und man agiert deshalb eben immer auch sehr nah an den Realitäten der Stadt und ihrer Bewohner:innen. Ich merke jedenfalls schon jetzt, dass die Kestner Gesellschaft auch hier in Hannover ein sehr gutes Standing hat und von einem breiten bürgerschaftlichen Engagement getragen wird.

Neben den laufenden Ausstellungen – welche Angebote bieten Sie an und welche wollen Sie in Zukunft etablieren?

Wir verstehen Vermittlung nicht als Add-on, sondern als integralen Bestandteil des kuratorischen Prozesses. Neben Vorträgen, Gesprächen, Performances oder Workshops wollen wir Formate entwickeln, die nicht auf Rezeption, sondern auf Teilhabe abzielen. Denkbar sind auch langfristige Kooperationen mit Schulen, postmigrantischen Initiativen oder anderen Netzwerken. Es geht um nachhaltige Beziehungen, nicht um punktuelle Events. Das schöne und erfolgreiche Beispiel der Kestnerkids habe ich ja schon erwähnt.

Wann war Ihnen klar: Die bildende Kunst ist mein Weg? Gab es einen prägenden Einfluss?

Es gab keinen singulären Moment, sondern eher eine Reihe von Erfahrungen, die mir gezeigt haben, dass Kunst Dinge auf eine Weise verhandeln kann, die anderswo oft keinen Platz finden – und, dass in diesem Feld spannende Persönlichkeiten tätig sind. Ich bin in Köln aufgewachsen, als Kind ins Ludwig Museum gegangen, später auf die Art Cologne und mit dem Beginn meines Studiums zu den Rundgängen der Kunstakademie Düsseldorf. Mir war von Anfang an klar, dass ich nicht als Künstlerin arbeiten wollte, aber mit Kunst und mit Künstler:innen. 2001 folgte dann mein erstes Praktikum im Kunstverein Hamburg. Rückblickend hat sich daraus nach und nach – zunächst aus reiner Neugierde – schließlich mein Weg entwickelt.

Warum sind Sie geworden, was Sie sind? Hätte es auch anders kommen können? Was war Ihr erster Berufswunsch?

Architektur oder Jura hätten mich auch gereizt, aber die Gegenwartskunst der frühen 2000er hat mich schneller gefesselt – ihr Grenzbereich zwischen Theorie, Praxis und gesellschaftspolitischer Kontexte, zwischen Analyse und individueller Gestaltung im Zusammenspiel mit sozialen Komponenten und einem anhaltenden Austausch mit einem breiten Publikum. Kunst ist für mich ein Ort, an dem diese Sphären produktiv aufeinandertreffen – und das war von Anfang an entscheidend.

Das vollständige Interview mit Eva Birkenstock …

… finden Sie in der radius/30 Ausgabe November/Dezember.

Archiv