DIE GESELLSCHAFT SCHÖN MACHEN*

22. Juni 2017 / Magazin

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*In Anlehnung an einen Satz von Bundespräsident a. D. Joachim Gauck am 15.3.2017 vor ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern: „Ich danke Ihnen, dass Sie dieses unser Vaterland schön gemacht haben und schön machen.“

Wo Menschen nicht als Einsiedler leben, sondern in Gemeinschaft mit anderen, schaffen sie sich notgedrungen oder freiwillig Räume, in denen sie ihr Miteinander „gemeinwohl“ organisieren. Wo Menschen in Beziehungen miteinander leben, aufeinander angewiesen sind und öffentliche Lebensbereiche persönlich motiviert oder in solidarischer Verantwortung gemeinsam gestalten, brauchen sie zugunsten strukturierter menschlicher Interaktionen geeignete Organisationen.

Früher waren die sozialen Lebensbereiche kleinräumiger, lokal begrenzt und überschaubar (und damit auch sozial kontrolliert). Wichtige gemeinsame Aufgaben übernahmen die Honoratioren des Ortes: der Bürgermeister, der Pastor, der Lehrer, die Krankenschwester und der Arzt. Daneben gab es in den Kommunen und Kirchengemeinden Gremien und Gruppen, die sich dezidiert um Notfälle in den eigenen Reihen kümmerten. Wenn sie nicht Streit miteinander hatten (oder dieser angesichts des Notfalles spontan in den Hintergrund trat), halfen sich die Bauern bei Tag und Nacht gegenseitig mit Rat und Tat, mit Personal und Material, noch lange, bevor es Raiffeisen-Genossenschaften, Maschinenringe oder Agrarbetriebshelfer gab. Wenn es brannte, halfen alle verfügbaren Hände beim Retten, Löschen, Bergen und Schützen von Mensch, Vieh und Sachwerten. Und wenn es in einem Haus Nachwuchs gab oder jemand starb, gab es nachbarschaftliche Hilfe etwa in Form eines vorbeigebrachten fertig gekochten Mittagessens. Ein Glück, wo spontane Nachbarschaftshilfe und Solidarität bescheiden und dennoch (oder gerade deshalb) unendlich wirkungsvoll, auch heute noch geschehen!
Dass solch ein gemeinschaftlicher Umgang nicht immer konfliktfrei vonstatten ging, versteht sich von selbst, konnte aber das Prinzip gemeinsamen Einstehens füreinander nicht ad absurdum führen – im Gegenteil. Der Volksmund weiß: Not schweißt zusammen. Rational könnte man ja sein Engagement für andere auch damit begründen, dass es einen ja auch einmal selber treffen könnte und man dann froh ist, wenn jemand anderes für einen einspringt. Ein legitimer Egoismus. Dahinter stehen aber auch explizit christlich motivierte Einstellungen: Einem Hungernden gibt man etwas zu essen, einen Fremden nimmt man auf, einem Armen hilft man, ein Kranker bekommt medizinische Behandlung, einen Einsamen oder Gefangenen besucht man. Aktuelle Sozialarbeit in den kirchlichen Formen der Diakonie und der Caritas denkt die innere Logik der Gedanken Jesu weiter und setzt sie um in heutige soziale Konstellationen und Problemstellungen.

Soziales Miteinander heute
Solche menschlich-mitmenschliche gegenseitige Hilfe gibt es auch heute noch und wo sie funktioniert, gewinnt das Miteinander spürbar an Wert. Man findet sie im nachbarschaftlichen Nahbereich, in Vereinen und Kirchen, in Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen. Sie ist so vielfältig, wie Not und existentielle Fragen vielfältig sind. Sie ist unverzichtbarer und nie hoch genug zu schätzender Teil des „sozialen Netzes“ eines Staates und darf unter keinen Umständen abgeschoben werden in die Rolle einer Lückenbüßerin oder Reparatur-Abteilung, wo „die Allgemeinheit“ in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung versagt. Der Grad der Mitmenschlichkeit und Solidarität, ihr Vorhandensein oder Fehlen hat unmittelbar Auswirkungen auf die soziale Wärme (oder Kälte) einer Gesellschaft. Social Media können da zum Segen werden, wenn sie von Not Betroffenen helfen, kontinuierlich in Kontakt zu bleiben, sich zeitnah auszutauschen, miteinander Fragen zu diskutieren und mögliche Formen der Hilfe zu finden.

Denken und Handeln, die den kleinräumigen und überschaubaren sozialen Kontext übersteigen, erfordern heutzutage weitere und zeitgemäße Strukturen und Organisationen, oft genug ein Denken von sozialen Kategorien und globalen Dimensionen und geeignete Rechtsformen. „Die Allgemeinheit“, landläufig „der Staat“ oder die Kommune, haben sich bei uns diese Aufgaben zu Eigen gemacht und dies auch gesetzlich verankert. Neben internationalen und staatlichen öffentlichen Institutionen verantworten auch freie Träger im Sinne der Subsidiarität Aufgaben der Gesellschaft oder leisten Hilfe für bestimmte Personengruppen: Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Jugendverbände, Selbsthilfegruppen und Stiftungen. Ihre Arbeit tun sie unter anderem im medizinischen Bereich in Krankenhäusern und Krankenpflegestationen, im Bereich der Kindertagesstätten und anderer Bildungseinrichtungen, in der Behindertenarbeit, in Einrichtungen für Senioren, bei der Betreuung von Flüchtlingen und in vielfältigen Beratungsangeboten.

Formen sozialer Arbeit
Grundsätzliche Aufgaben der Daseins-Vorsorge gehören heutzutage originär zum Aufgaben- und Pflichtenkatalog „der Allgemeinheit“, sprich der Kommune beziehungsweise des Staates. Das Niedersächsische Kommunalverfassungsgesetz definiert in § 4: „Die Kommunen … stellen in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit die für ihre Einwohnerinnen und Einwohner erforderlichen sozialen, kulturellen, sportlichen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereit.“

Dass die Leistungsfähigkeit der Kommunen begrenzt ist, wird konzediert. In der Folge wird der Umfang der jeweils konkreten Leistungen gesellschaftlich und politisch kontinuierlich und kontrovers diskutiert, ebenso die Frage nach den Verpflichtungen „der Allgemeinheit“ und daraus resultierenden möglichen Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen. Gemeinhin werden unter den von der Allgemeinheit zu erbringenden elementaren Leistungen unter anderem diese verstanden: die Energieversorgung, die Versorgung mit und die Entsorgung von Wasser, die Abfallentsorgung, der Öffentliche Personennahverkehr, das Schul- und Bildungswesen, die medizinische Versorgung im Rettungswesen und in Krankenhäusern, Bibliotheken und Museen – die Liste ist offen.

In heutigen Kommunen, Landkreisen und Ländern und bei den freien Trägern sozialer Dienste müssen Arbeitsstrukturen zeitgemäß organisiert und entwickelt sein. Viele Vorgänge sind zunehmend gesetzlich geregelt und müssen personell und finanziell abgesichert sein. Es gilt, ein Gespür zu entwickeln für sich verändernde soziale Fragestellungen angesichts einer sich schnell verändernden Welt und neuen politischen Rahmenbedingungen. Sozialarbeit muss sensibel bleiben für Notsituationen aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen (z. B. demografischer Wandel, Migrationsbewegungen), aufgrund neuer Arbeitsmarktbedingungen, im Hinblick auf die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich im eigenen Land und weltweit, dem gesellschaftlichen Umgang mit Leid und Behinderung und deren individuellen Auswirkungen. Und es gilt unbedingt, diejenigen im Auge zu behalten, die, aus welchen Gründen auch immer, durch alle Raster des sogenannten „sozialen Netzes“ hindurchfallen könnten oder bereits hindurchgefallen sind und ohne entsprechende Unterstützung und Hilfe nicht mehr auf die eigenen Beine kommen.

Die Erbringung von adäquaten sozialen Leistungen wird zunehmend komplexer und anspruchsvoller und ist in vielen Bereichen ehrenamtlich gar nicht mehr leistbar. Spezifische Fragestellungen bei sozialen Notlagen, gesundheitlichen Problemen, psychischen Krisen und Migration erfordern qualifizierte
Vorbildung, profunde Kenntnisse und oft genug die Kooperation verschiedener Stellen, Ämter und Disziplinen zur Erarbeitung konkreter Lösungen. In Ergänzung dazu bleibt die ehrenamtliche Mitarbeit von Menschen mit gesundem Menschenverstand, persönlichem Know-how, ihrer Zeit und dem „Herz auf dem richtigen Fleck“ absolut unverzichtbar und ist durch nichts zu ersetzen – nicht nur dort, wo der Beitrag der „Allgemeinheit“ zu einer mitmenschlichen Gesellschaft mangels politischem Willen, mangels Finanzen oder Manpower unterbliebe. Freiwillig und ehrenamtlich geleistete Mitarbeit kann dabei von keiner betriebs- oder volkswirtschaftlichen Rechnung auch nur im Ansatz erfasst werden.

Apropos Finanzen: Mit sozialer Arbeit ist im Normalfall kein Geld zu verdienen. Die meisten Träger sozialer Dienste gehören zu den Non-Profit-Organisationen, die keine Gewinnabsichten geschweige denn eine Gewinnmaximierung zum Ziel haben, sondern primär gemeinwohlorientiert aus Motiven der Mitmenschlichkeit und der Nächstenliebe arbeiten. Sie können ihre Arbeit nur mit privaten Spenden und staatlicher Förderung – entweder freiwillig, per Steuerbefreiung aufgrund anerkannter Gemeinnützigkeit oder im Rahmen der Subsidiarität – und ehrenamtlich erbringen.

Unternehmen und soziale Verantwortung
Neben diesen Formen sozialer Arbeit haben sich in der Wirtschaft eigenständige Modelle entwickelt: Unternehmen engagieren sich in ganz konkreten sozialen Projekten, und zwar unabhängig ihrer „Corporate Social Responsibility“ (CSR), die die gesamte Gestaltung ihres Kerngeschäfts nach den Kriterien „ökologisch verträglich“, „sozial verantwortlich“ und „ökonomisch erfolgreich“ auf den Prüfstand stellt.

In Abgrenzung dazu findet „Corporate Citizenship“ (CC) über Aktivitäten statt, zu denen sich Unternehmen autonom und freiwillig entscheiden und in der Folge systematisch entsprechende Ziele und Inhalte bürgerschaftlichen oder gesellschaftlichen Engagements verfolgen. Methodisch geschieht dies besonders über Spenden, Sponsoring und Stiftungsaktivitäten; dazu wird von diesen Unternehmen als weiterer elementarer Bestandteil im personellen Bereich „Corporate Volunteering“ (CV) unterstützt, indem sich Mitarbeitende punktuell oder längerfristig in gemeinnützigen Projekten einbringen. Dies muss nicht im Rahmen des eigentlichen Kerngeschäfts geschehen; entscheidend ist für CC, dass sich Unternehmen für das Gemeinwohl engagieren und soziale Verantwortung nach innen und außen als einen Teil ihrer Unternehmenskultur übernehmen. Wo es gelingt, entsteht für die Unterstützenden und die Unterstützten eine Win-win-Situation: Das Unternehmen gewinnt Marktbekanntheit und soziales Renommée, die Mitarbeitenden bilden sich in den Projekten weiter und erarbeiten sich personale und soziale Kompetenzen auch außerhalb der betrieblichen Abläufe, auf der anderen Seite profitieren soziale Einrichtungen und Projekte von materieller, personeller und ideeller Unterstützung.

Text: Gottfried A. Bührer, Bild: pixabay (Gerd Altmann)

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