Digitalisierung macht auch vor der Automobilbranche nicht Halt. Selbst einparken, autonom fahren und untereinander kommunizieren – was vor einigen Jahrzehnten wie Science Fiction klang, ist heute normaler Alltag: Das Auto wird zunehmend intelligent. Für die Automobilhersteller steht nicht mehr das Fahrzeug und seine Technik im Fokus, sondern der Nutzer und seine Mobilität. Und die geht über das reine Fahren weit hinaus. radius/30 ließ sich auf ein Gespräch mit einem Fahrzeug in der Mercedes-Benz Niederlassung Hannover ein.
„Hey, Mercedes, mir ist kalt.“ Die Antwort kommt prompt und freundlich: „Ich stelle die Heizung auf 21 Grad.“ Ich muss lachen: Habe ich mich eben mit einem Auto unterhalten? Einige Mercedesfahrer werden es kennen: MBUX – Mercedes-Benz User Experience. Das Multimediasystem mit künstlicher Intelligenz, das – ähnlich wie Siri oder Alexa im Alltag – die Kommunikation mit dem Fahrzeug über die Spracherkennung ermöglicht. „Hey, Mercedes, mach bitte die Sitzheizung an“, sagt Jan Paul Honig vom Fenster der Beifahrerseite aus.
Er ist Produktexperte bei der Mercedes-Benz Niederlassung Hannover und erklärt mir die Funktionen der Sprachsteuerung. Zu mir ins Auto steigen darf er aufgrund der Corona-Beschränkungen nicht – deshalb steht er vor dem geöffneten Fenster. Das irritiert die Sprachsteuerung nicht. Prompt erwärmt sich der Sitz neben mir. „Hey, Mercedes“, spinnt der 24-Jährige das Spiel weiter, „mach bitte die Sitzheizung des Fahrers an.“ Auch das wird umgehend umgesetzt. Das Spiel – ist diese Art der Sprachsteuerung einfach ein unterhaltsames Gadget?
Personalisierte Services
Ja, Sprachsteuerung ist unterhaltsam. Insbesondere, wenn sie so intelligent ist, dass eine nahezu normale Unterhaltung zustande kommt. MBUX reagiert auf natürliche Sprache. Ich muss in einem Mercedes mit MBUX nicht mehr laut und deutlich „P-e-t-z-e-l-s-t-r-a-s-s-e“ buchstabieren, wenn ich zum Flughafen Hannover möchte, sondern es reicht ein „Bitte bring mich zum Flughafen.“ Die Zieladresse und die ideale Route recherchiert und errechnet das System selbst. Wenn ich möchte, kann ich mir unterwegs vegane Restaurants und ihre Bewertungen im Internet oder ausgefallene Sehenswürdigkeiten anzeigen bzw. vorlesen lassen.
Künstliche Intelligenz kann noch mehr: Sie merkt sich die Gewohnheiten des Fahrers, Lieblingssongs oder Arbeitswege und „denkt mit“, indem sie passende Radiosender anzeigt oder eine Alternativroute, wenn auf der üblichen Route Stau herrscht. Künstliche Intelligenz denkt nicht nur mit, sondern lernt auch ständig Neues und stellt sich individuell auf den Fahrer und seine Vorlieben ein. „Der Fahrer wird zunehmend in das Fahrzeug integriert. Er steuert nicht mehr nur das Auto. Es ist ein beeindruckender Wandel zur Digitalisierung: Früher war das erste Radio mit Kassettenspieler eine technische Innovation im Auto, dann gab es einen CD-Player und irgendwann war das erste Navigationssystem ein Meilenstein“, erklärt Jan Paul Honig. Heute ist das Auto komplett vernetzt und bewegt sich nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch in einem Netz aus digitalen Diensten.
Ist das nicht unglaublich komplex, frage ich mich, als ich die vielen Lampen und Zeichen auf dem großen Display vor mir betrachte. „Ich nehme bei Autokäufern oft eine gewisse Skepsis wahr, aber keine Ablehnung“, berichtet Jan Paul Honig. „Zudem sind die gewohnten Schalter alle noch da. Der Fahrer kann selbst entscheiden, über welchen Weg er sein Auto bedient – Sprachsteuerung, Touchscreen, Touchpad oder Knöpfe. Er hat ständig die Wahl, welche Funktionen er nutzen möchte. Der Fahrer nimmt teil, er gibt nicht die Kontrolle ab. Das ist vergleichbar mit dem teilautonomen Fahren: Mercedes-Benz ist in Sachen autonomes Fahren in der Entwicklung sehr weit fortgeschritten. Das Fahrzeug kann Strecken selbst übernehmen und autonom fahren. Das System fordert jedoch nach einer gewissen Zeit einen Impuls am Lenkrad ein, um sich zu vergewissern, dass der Fahrer die Situation überwacht.“
Junge Menschen seien begeistert von dem, was technisch im Fahrzeug alles möglich ist, erzählt der Experte weiter. Und sie seien oft auch überrascht, dass sich das Auto mit der Computerwelt zeitgleich weiterentwickelt und nicht zurückhängt. Aber auch ältere Menschen sind begeistert von den Möglichkeiten, die die Digitalisierung im Auto bietet. Viele von ihnen besitzen ein Smartphone und kennen das Vernetzt-Sein, Internetnutzung ist ihnen nicht fremd. Im Gegenteil: Viele beschäftigen sich gerne mit den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung.
Tipp: Augmented Reality
„Viele Fahrer kennen die Möglichkeiten der Augmented Reality noch nicht“, erzählt Jan Paul Honig. Eine Kamera in der Windschutzscheibe nimmt die Umgebung auf und spiegelt diese auf das Display. Beim Navigieren werden in Echtzeit Pfeile eingefügt, auf welcher Spur man fahren soll. Insbesondere bei mehrspurigen Straßen in fremden Städten oder an Autobahnkreuzen ist diese digitale Unterstützung eine große Orientierungshilfe.
Der Mercedes-Produktexperte aus Hannover empfiehlt im Umgang mit den digitalen Diensten: „Gehen Sie spielerisch an die Sache heran und probieren Sie einfach aus. Man kann nichts unwiederbringlich verstellen und sicherheitsrelevante Dinge werden ohnehin ausgelassen. Durch das Ausprobieren verschiebt man die Grenzen seines Kenntnisbereichs und entdeckt eventuell Features, von deren Existenz man nichts wusste, die einem aber nützlich sind.“ Während ich aus dem Autohaus gehe, denke ich über diesen Rat nach. Mir fallen zahlreiche Fragen ein, die ich bei einem nächsten „Treffen“ mit der Künstlichen Intelligenz stellen werde. Und ich bin gespannt darauf, wie ihre Antworten ausfallen werden.
Text: Susanne Bührer
Den gesamten Artikel über die Digitalisierung in Fahrzeugen …
finden Sie in unserer aktuellen radius/30 Sommerausgabe. Weitere Infos zu MBUX gibt es unter www.mb4.me/digital-hannover.