In unseren Interviews seit dem Anfang der Pandemie-Maßnahmen spielte das Thema Corona bewusst eine Nebenrolle. Nun aber blicken wir auf ein Jahr Corona zurück und baten drei Akteure der Musik- und Veranstaltungsbranche zum virtuellen Roundtable-Gespräch. Thema: Wie seid ihr durch die Zeit gekommen und wie geht es weiter? Am Start: der Konzertveranstalter Dirk Sadlon (Living Concerts), der Netzwerker und Projektleiter Gunnar Geßner (MusikZentrum) und die Pop-Jazz-Sängerin Tokunbo Akinro.
radius/30: Im März vor einem Jahr ging es in Deutschland erstmals in den Lockdown. Könnt ihr euch an das letzte Konzert erinnern, bei dem ihr persönlich beteiligt wart?
Geßner: Ich war an der Planung von ein paar Streaming-Konzerten beteiligt. Das ist gar nicht lange her; am 20. Januar im MusikZentrum. Es spielte ein Elektronik-Duo. Den Gesang konnte man gut hören, den Rest der Musik weniger. Und dann rockte noch eine Rockband richtig los. Was man aber nur über die Monitore hörte. Das alles war schon ein wenig seltsam. Das letzte Mal, dass ich etwas live mit Publikum und nicht vor Kameras erlebte, war im Sommer auf der Kulturwiese vor der Faust.
Aber das Konzert fand ja unter Hygieneregeln statt. Magst du dich an dein letztes Konzert vor der Krise erinnern – ganz ohne Beschränkungen?
Geßner: Das ist schlimm, aber ich kann mich tatsächlich nicht erinnern. Ich war in der letzten Woche vor dem Lockdown so viel in bundesweiten Netzwerken aktiv. Da ist so viel passiert. Es gab einen richtigen Schub an Lobbyarbeit für die Musikszene. Ich habe das Gefühl, mein Gedächtnis ist teilweise gelöscht. Mit meinem Job beim MusikZentrum bin ich in Kurzarbeit gegangen, aber durch die Netzwerk-Arbeit sprang trotzdem eine 60-Stunden-Woche heraus. Tausende Punkte, die es zu beachten gilt: Was schreibt der Staatssekretär zu dieser Verordnung? Was ist erlaubt in Niedersachsen? Und was machen die in Berlin? Wir haben uns sofort bundesweit vernetzt und versucht, in stundenlangen Calls einen effektiven Krisenstab zu bilden. Eine krasse Zeit.
Akinro: Mein letztes Konzert vor dem Lockdown war mit der NDR Radiophilharmonie im Kuppelsaal mit 2.400 Gästen im Publikum. Das war im Dezember 2019.
Und wie war es bei dir, Dirk?
Sadlon: Bei unserer letzten Konzertproduktion im MusikZentrum vor dem Lockdown hatte ich tatsächlich noch mit Gunnar zu tun, ob wir es überhaupt stattfinden lassen dürfen. Bei dem Konzert selbst war ich gar nicht mehr anwesend. Ich bin ja zu der Zeit Vater von Zwillingen geworden und hatte bis Anfang März alle Produktionen vor- und abgearbeitet, damit ich nach der Geburt ein wenig Zeit für die Familie habe. Ich bereitete also Produktionen vor, die gar nicht stattfanden. Bei diesem letzten Konzert war schon auffällig, dass – obwohl 400 Tickets verkauft waren – nur die Hälfte der Karteninhaber erschienen ist. Im Sommer veranstalteten wir dann ein paar Biergarten-Konzerte unter Hygienebedingungen. Etwa das Konzert von „Ich kann fliegen“ im Biergarten bei Hannover 78.
Wie seid ihr im Folgenden mit der Krise umgegangen? Was passierte in dieser ersten Phase der Pandemie?
Schockzustand oder Aufbruchstimmung?
Sadlon: Wir bekamen schnell die ersten Mails von Bands, die gerne ihre Konzerte verlegen wollten. Wir dachten zuerst, wegen so einer Grippe muss man doch keine Konzerte verlegen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Man hörte die ersten Prophezeiungen, das Frühjahr wäre gelaufen. Einige wenige meinten sogar, das Jahr sei gelaufen. Das wollte man anfangs gar nicht wahrhaben. Solch eine Situation hat ja noch niemand von uns erlebt. Es ist ja tatsächlich eine Katastrophe! Wir verlegten also erst mal Konzerte – vom April in den Juli.
Aber mit den Nachrichten kam die Erkenntnis: Okay, das Jahr ist tatsächlich gelaufen. Die verlegten Konzerte wirst du noch mal verlegen müssen. Und noch mal und noch mal. Nun sind wir in der Situation, dass wir Konzerte schon zum vierten, fünften Mal verlegen müssen. Zum Teil auf Ende 2022 oder Anfang 2023. Das wollen aber viele Künstler und Agenturen nicht wahrhaben. Sie argumentieren, mit dem Impfstoff könne man ja im September wieder starten. Das wird aber nicht klappen. Mittlerweile hat sich der Blickwinkel umgedreht: Am Anfang der Pandemie wollten wir den Agenturen nicht glauben, die Touren absagten. Nun sind wir es, die die Touren verschieben wollen. Das ist eine merkwürdige Situation, weil wir alle nicht wissen, wann es irgendwie weitergeht.
Akinro: Mir ging es ähnlich wie Dirk. Ich kann mich an Gespräche Ende Februar, Anfang März erinnern. Veranstalter, die mir sagten, es wird jetzt schwierig, habe ich zunächst nicht wirklich ernst genommen. Dann rief mich mein Bandkollege an, ob dieses oder jenes Konzert noch stehen würde. Ich antwortete: „Nein, nein, das wird schon.“ Zwei Tage später musste ich ihm die Konzertabsage durchgeben. Zu dem Zeitpunkt hofften wir dennoch, im Mai auf unsere Serbien-Tour zu gehen. Aber auch daraus wurde nichts. Ähnliches passierte mir mit meinem Lehrauftrag im Pop-Kurs in Hamburg. Zum vorletzten Termin bin ich noch direkt aus dem Urlaub im Wendland hingefahren. Während ich dort noch zwischen den Unterrichtsstunden meine Mails checkte, kamen die Nachrichten rein: Lockdown Musikhochschule, Lockdown Kindergarten. Da merkte ich endgültig: Jetzt ist es ernst.
Ahntest du damals schon, was dann kommen würde?
Akinro: Ich habe mich schnell damit auseinandergesetzt, was wäre, wenn das jetzt ein Jahr oder gar zwei Jahre dauert. Mir war klar: Ich muss in gewisser Weise umsatteln und online aufrüsten. Ich habe mir sofort eine Videoausrüstung gekauft. Mein Home-Studio hatte ich sowieso schon. Dann schaute ich mir viele Tutorials an und gestaltete meinen Hochschulunterricht online um. Gleichzeitig gründete ich mit zwei weiteren Musikerkollegen die Initiative „Airplay For Artists“. Schlussendlich haben 85 Künstler*innen unseren offenen Brief an die Radiostationen mit der Bitte um Unterstützung unabhängiger Musiker*innen mit gezeichnet. Die Koordination dieser Initiative war sehr aufwendig. Der Kindergarten war zudem geschlossen und ich konnte mitunter nur nachts arbeiten. Eigentlich wollte ich im letzten Jahr mein Album mit meiner Band komplett einspielen, aber das wurde zunehmend unrealistisch und ich musste alles loslassen. Ich nutzte die zweite Jahreshälfte dafür, die Songs zu schreiben und auszuarbeiten.
Hattest du gar keine Zukunftsängste?
Akinro: Dieses Nichtwissen, wie es irgendwann weitergeht, das macht viel mit einem. Dazu die Signale, die wir als Kulturschaffende bekommen, dass wir nicht systemrelevant sind. Dann die Überbrückungshilfen, die bei den meisten Soloselbstständigen nicht greifen. Das ist solch eine schwere Last, dass viele Musiker*innen unter Depressionen leiden. Eine große Stütze in dieser Situation ist für mich ein Kreis von Musiker*innen, mit denen ich regelmäßig in Kontakt bin. Wir sind eine Art Mastermind-Team, die sich gegenseitig stützen und stärken. Diesen Kontakt haben wir im letzten Jahr noch intensiviert; uns viele Ideen zugespielt. Das wurde eine große treibende Kraft. Die andere Kraftquelle war der Kontakt zu meinem Publikum über meinen Newsletter, den ich regelmäßig verschicke. Zudem startete ich ein Artist-Spotlight und stellte Musiker*innen aus unserer Initiative vor. Auch mit dem Hintergedanken, dass es viele Künstler da draußen gibt, die es lohnt kennenzulernen und zu unterstützen.
Interview: Bernd Schwope
Das vollständige Interview mit Dirk Sadlon, Gunnar Geßner und Tokunbo Akinro …
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