Prof. Gunnar Spellmeyer: „Die Kreativen brauchen das Heterogene“

01. Dezember 2023 / Im Gespräch

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Bild: Daniel Schaffer, Berlin

Hannolab, innotonic, Nexster, aufhof oder innovercity: der Industriedesigner und Hochschulprofessor Gunnar Spellmeyer ist nicht nur bekannt für seine fantasievollen Projektnamen. Seine Werke stehen in wichtigen Museen, er heimst Designpreise rund um den Globus ein und engagiert(e) sich zudem noch in unzähligen Initiativen wie kre-H-tiv oder dem Lions Club. Die Anfrage zu diesem Interview erreichte ihm in seinem Urlaub in Portugal. Absage? Von wegen! Bereits am nächsten Tag steht die Zoom-Leitung und Gunnar Spellmeyer gibt entspannt Auskunft über den Zusammenhang von versetzten Wänden und dem Willen zur Gestaltung, das Fragen manchmal besser sind als Antworten und was Religion und Design gemeinsam haben könnten.

radius/30: Ihre Vita ist gespickt mit Preisverleihungen, Projektgründungen, Initiativen. Sie sind Designprofessor, aber selbst noch kreativ aktiv. Ich hätte Probleme auf den Punkt zu bringen, was Sie genau beruflich machen. Mögen Sie dies für mich tun?

Prof. Gunnar Spellmeyer: Ich mache Menschen kreativer. Das ist die schnellste Formel. Dahinter kommt ganz viel anderes. Ich versetze Menschen wieder in die Lage, zu entwerfen und Welt zu erzeugen.

Sie setzen Impulse?

Ja. Und ich bin auch ein großer Freund des Fragenstellens und weniger, auf schnelle Antworten reinzufallen.

Ist das nicht immer das Los eines Kreativen?

Ich nehme die Welt so wahr, dass schnelle Antworten gewünscht sind für die multiplen Krisen unserer Zeit. Viele haben offensichtlich keine Idee dazu. Also lassen sie sich von schnellen Antworten verleiten. Fernsehformate wie z. B. „Hart aber fair“, ich habe sie lange nicht mehr gesehen, sind für mich Zeichen dieser Sehnsucht, nicht ausdifferenzierte politische Antworten, sondern die schnelle Lösung zu suchen. Für mich steckt da eigentlich, das meine ich gar nicht böse, eine gewisse Einfallslosigkeit dahinter. Wir sind durch diese preußische Schulerziehungskultur gedrillt worden, Aufgaben routinemäßig zu erledigen: Das macht es Lehrenden einfacher, weil dann die Aufgaben bzw. Klausuren besser zu prüfen sind. Aber in dem Moment, wo es ein offenes Prüfungsformat wird, wird es schwierig. Dann muss man genauer hinschauen. Und das macht Arbeit!

Sehen Sie sich mehr als Lehrender oder als kreativer Geist? Beide Stränge sind in Ihrer Biografie präsent. Wie bekommen Sie diese zusammen?

Ich würde sagen, ich bin beides. Im Kern bin ich aber Schaffender oder Gestaltender. Aber ich gestalte eben auch Lernprozesse. Und das kann man gut ablesen. Ich habe im Mai eine Ehrendoktorwürde an einer indonesischen Kunsthochschule bekommen; eine Auszeichnung auch für ein solches Innovationsformat. Das war mir eine große Freude. Weil man eine Auszeichnung dafür bekommt, was man wie beibringen möchte. Deswegen sage ich auch: Ich mache Menschen kreativer. Über alle möglichen Designpreise habe ich mich auch gefreut, aber über diesen besonders. Davon ab sehe ich mich zuvorderst als Gestalter. Das findet sich in Namenskreationen wie „aufhof“, „Nexster“ oder „innovercity“. Namen und Maßnahmen, mit denen ich zum Ausdruck bringen kann, um was es mir geht: den nächsten Schritt zu gehen, aus einem offenen, befriedeten Ort sich auf das Neue einzulassen.

Wissen Sie noch, wann und wie das alles bei Ihnen angefangen hat, sich für kreative Prozesse und Design zu interessieren?

Es gibt eine drollige Geschichte über meine Eltern. Meine Mutter war Näherin, was etwas Künstlerisch-Handwerkliches in sich trägt. Sie hat vieles selbst gemacht. Dabei entging mir nicht, wie sie stets überlegt hat: „Wenn ich jetzt etwas nähe, wie soll’s denn aussehen? Welchen Stoff nehme ich?“ Ich habe an ihren Gedanken immer teilgenommen. Und mein Vater war Maurer. Er hat die Wand meines Kinderzimmers versetzt, damit irgendwo anders ein Schrank besser reinpasst. Ein Tischler hätte den Schrank verändert. Mein Vater hingegen hat halt eine Mauer versetzt. Für einen kleinen Jungen wie mich war das Kinderzimmer die Welt. Und die erschien plötzlich gestaltbar. Ich musste erst mal sehen, wie ich diesen Schock überwinde. Okay, die Wände, die da sind, müssen so nicht sein. Die kann man auch versetzen. Das war wie eine Art Initial für mich. Ich habe fortan mich immer wieder gefragt: Muss dies oder jenes so sein? Und warum ist es überhaupt da?

Und am Ende dieses Denkprozesses stand dann das Designstudium?

Man ist erst mal beschäftigt, ob man an einer Hochschule überhaupt bestehen kann. Man reiht sich ein in das Streben nach vielleicht Designpreisen oder der Zustimmung der Professoren. Mir war aber auch immer klar, wenn ich selbstständig werden wollen würde, dann sollte ich frühzeitig anfangen. Da ist die Käseglocke Hochschule eine gute Möglichkeit, schon mal loszulegen. Also habe ich mit Kommilitonen ein Büro gegründet namens „Formfürsorge“. Wir hatten zusammen mit einem Schneidebrett, das lange Jahre ein guter Grundstock war für unseren Bürobetrieb, Erfolg. Das war der Start in die Selbstständigkeit. In ein neues Bewusstsein kam ich dann mit der Professur. In dem Apparat muss man sich auch erst mal zurechtfinden. Ich dachte: Wunderbar, jetzt kann ich inhaltlich arbeiten. An der Hochschule ist ja alles geklärt. Allerdings: Im eigenen Büro ist ja nicht nur die inhaltliche Arbeit gegeben, sondern auch das Wirtschaftliche gilt es zu lernen. Dafür muss man erst mal Strukturen schaffen, die ich aber noch gar nicht kannte. Hochschule ist ständigen Veränderungen unterlegen. Das ist ständiges Justieren und Korrigieren. Ich war also neuerlich gefordert, etwas mitzugestalten. Heute ist das etwas Selbstverständliches für mich. In den Anfangsjahren war ich aber überrascht, dass so viele Dinge, die ich für selbstverständlich hielt, gar nicht geklärt sind.

Welche Strukturen konnten Sie schaffen?

Mit dem Ankommen an der Hochschule reifte die Frage, wie kann man in Hannover ein erfolgreiches Studium aufbauen? Wie muss das Studium eigentlich aussehen? Es geht ja um die Gestaltung industriell in Massen gefertigter Dinge, wie müssen wir da eigentlich agieren? Schließlich wird in Deutschland eher weniger gefertigt. Wir haben lange Jahre chinesische Studierende ausgebildet, weil dort viel gefertigt wird. Es war absehbar, dass dort nicht nur gefertigt, sondern auch gestaltet wird. Wie positioniert man sich dann in Deutschland? Für mich wurde deutlich: Wir müssen uns in Deutschland um das Kreieren und das Erfinden kümmern. Mit den Jahren stellte ich fest, dass viele Studierende mit ihren Ideen nicht ankommen. Sie hecheln nach dieser Bologna-Reform durch das Studium und erfüllen ihre Module. Die Ideen, wobei manche durchaus marktfähig sind, verschwinden in den Schubladen. So entstand der Impuls, Nexster zu gründen, ein Entrepreneurshipcenter, wie wir sagen, ein Gründungszentrum, damit diese Ideen irgendwie in die Verwertung kommen. Es geht uns darum, dass diese Ideen auch eine Wirksamkeit entfalten. Ob sich das dann auch monetär lohnt, ist eine andere Frage.

Aber Ihre Studierenden müssen auch lernen, wirtschaftlich zu agieren. Sie müssen Ihre Ideen am Markt ausprobieren. Wie helfen Sie ihnen dabei?

Anfangs habe ich gedacht, es müsste schrittweise einen Ablauf geben, wie wir mit den Studierenden da durchgehen. Mittlerweile sehe ich das eher als eine Art Dartscheibe. Der Student kommt an und hat seinen ersten Pfeil geworfen. Und der steckt jetzt irgendwo. Das kann sein, dass der Treffer beim Businessplan ist, und man feststellt, die Idee löst gar kein zugehöriges Problem. Oder in deiner Person liegt noch etwas, was du vielleicht optimieren solltest. Dann fängt man von dort aus an, individuell zu gehen. Wir schauen bei Nexster auf die Person. Und auf die Idee. Und auf den Markt. Aber alles schrittweise und sehr individuell ausgerichtet.

Wie teilt sich Ihr Arbeitstag auf? Als Professor, als selbstständiger Unternehmer, vielleicht auch mit der ein oder anderen ehrenamtlichen Tätigkeit – Sie engagierten sich etwa im kre-H-tiv-Netzwerk und dem Lions Club. Wie kann ich mir so einen Arbeitstag vorstellen? Sie geben ja sogar im Urlaub Interviews.

Ich bin Hörgeräteträger. Das Interessante bei Hörgeräten ist, dass sie den Tag mitschneiden und aufnehmen. Vor zehn Jahren hat mich eine Akustikerin gefragt, was ich eigentlich so mache. Ich sagte: „Wieso wollen Sie das denn wissen?“ Sie: „Ich sehe am Hörprofil, wann die Menschen aufstehen, wann sie zur Arbeit gehen, wann sie zu Mittag essen, wann sie Feierabend haben und abends Fernsehen gucken. Bei Ihnen erkenne ich keinen Rhythmus. Ich kann nicht sehen, wann essen Sie eigentlich.“ Ich entgegnete ihr, dass ich Designprofessor bin und tatsächlich sehr unterschiedliche Tage habe, die sehr früh beginnen und auch mal sehr spät enden können. Dabei muss ich viel hin- und herfahren. Ihr Kommentar war: „Allerhand, aber überlegen sie sich gut, was Sie Ihren Sinnen antun.“ Das fand ich bemerkenswert, weil es schon auch etwas Energiezehrendes hat. Aber ich stelle fest, es hat auch etwas Energiegebendes. Es ist unheimlich inspirierend. Es sind so kuriose Zusammenkünfte, dass man plötzlich bei der Lederverarbeitung etwas sieht, man aber mit recycelten Steinplatten arbeitet und das kombiniert. Manchmal sitze ich in einer Gremiensitzung und höre Wörter, die ich noch nie gehört habe, vermische sie aber mit einem anderen Anliegen. So entsteht vielleicht auch ein Wort wie „aufhof“. Manche sagen, das war ein schneller Einfall, aber ich habe dazu auch ein komplexes Chart, zu dem ich mir viel Gedanken machte. Was dann einfach vier Stunden methodische Arbeit bedeutet. Dass mir das Konzept so eines „Haus der Innovationen“ so bekannt ist, macht es natürlich leichter. Kurzum. Der Tag sieht eigentlich so aus, dass ich in der Regel drei Tage die Woche mit der Lehre beschäftigt bin. Und die beiden anderen Tage sehen dann so aus, dass ich Gespräche mit Forschungspartnern führe, aber auch noch selber Dinge erfinde oder entwickle.

Wie sieht Ihr Unterricht aus? Was bringen Sie Ihren Studierenden konkret bei?

Bei mir ist viel individuelle Beratungstätigkeit dabei. Die Studierenden haben ein Thema und durch dieses Thema begleite ich sie. Da gibt es viele Vier-Augen-Gespräche. Ich bin zwar kein Arzt, aber so ähnlich stelle ich mir das vor. Es gibt Tage, da führe ich 60 Beratungsgespräche. Um auch jedem gerecht zu werden, muss man sich Zeit nehmen und sich zuwenden können. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich mit dem Typus einiger Studierender nicht ganz so gut klar kam. Deswegen machte ich eine Ausbildung in Existenzanalyse und Logotherapie. Die Existenzanalyse nach Viktor Frankl besagt: Der Mensch hat einen freien Willen zum Sinn. In der Existenzanalyse geht es darum, wo ist der Sinn in deinem Leben, wo sind deine Werte? Schlussendlich sind wir dann bei Heidegger, der sagt, der Mensch ist ein in die Welt Geworfener. Im Deutschen gibt es wunderbarerweise den gleichen Wortstamm Entwerfen und Geworfen. Der Mensch findet sich vor in einer Welt und hat die Freiheit und Verantwortung, damit etwas zu machen. Dabei denke ich, viele Menschen wissen gar nicht mehr, wie sie mit dieser immer größer werdenden Freiheit umgehen sollen.

Was steckt hinter den Projekten wie aufhof oder innovercity?

Mit dem Projekt aufhof und dann innovercity möchte ich das kreative Denken von der Problemfeststellung bis zu einer Innovation in die Gesellschaft tragen. Der aufhof selber ist die Zwischennutzung einer Etage im leer stehenden ehemaligen Kaufhof. Wir sind im Winter letzten Jahres an die Stadt herangetreten mit der Idee: Wir, die Hochschule Hannover, möchten eine Art Haus der Innovation schaffen in der Mitte der Stadt. Wir können Innovation generieren. Und wir können sie für Partner in die Anwendung bringen. Das ist, was wir mit Nexster erlebt haben. Die vielen Zukunftswerkstätten und Design-Thinking-Camps mobilisierten die Menschen. Die merken, wir können Zukunft wieder gestalten und anfassen.

Zudem schafft man so eine Neubelebung der Innenstadt.

Allerdings sehe ich strategisch auch eine gewisse Gefahr darin. Alle Welt spricht über Stadtbelebung und die Nachnutzung von Kaufhäusern. Ich behaupte aber nicht, dass ein Haus der Innovation die Lösung für die Probleme der Innenstädte ist. Ich denke aber, dass es für eine neu zu entwickelnde europäische Stadt einen Beitrag leisten kann. Denn wir bringen wieder das Wissen in die Mitte der Stadt. Wir bringen den Austausch, den Dialog. Wir bringen aber auch vor allem viele junge Menschen in die Stadt. Das ist der Anspruch des Projektes mit der Kombination der Wörter Hannover, Innovation, University und City. Interessant ist für mich nur, dass ich schon seit 20 Jahren darüber spreche. In den letzten 10 Jahren vielleicht noch vehementer. Auf einmal aber kommen frühere Gesprächspartner, die die Idee zwar gut fanden, aber nichts taten, auf uns zu und fühlen sich inspiriert. Ich wundere mich eigentlich, warum. Weil inhaltlich ist nichts Neues passiert. Sie sehen nur in dieses leerstehende Gebäude, wo vielleicht die Farbe anders blättert, aber offensichtlich die Atmosphäre spürbar ist, dass man etwas verändern kann. Auf einmal wollen sie kooperieren.

Interview: Bernd Schwope


Das vollständige Interview mit Prof. Gunnar Spellmeyer …

… finden Sie in der radius/30 Ausgabe September/Oktober.

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