Logopädie: Seine Sprache und Stimme finden

19. Februar 2021 / Magazin

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Beim Artikulationstraining wird eine korrekte Aussprache geübt.

Beim Stichwort Logopädie denken viele spontan an Stottern und Lispeln, Logopädie ist aber weit mehr als das: Es betrifft die Sprache wie Grammatik und Wortschatz, das Sprechen, aber auch die Stimme, das Schlucken und Atmen, das Essen und die Ernährung und das Hören. Ein weites Feld, über das sich radius/30 mit Raphaela Steinbrügge von Bona Lingua unterhalten hat.

radius/30: Frau Steinbrügge, lispeln, stottern oder Buchstaben verdrehen – ab wann müssen Eltern bei ihren Kindern aufmerksam werden? Was ist „einfach nur eine Phase“, was kann oder sollte behandelt werden?

Raphaela Steinbrügge: Das lässt sich leider nicht pauschal beantworten, sondern ist abhängig vom Störungsbild. Wenn ein 2,5-Jähriger stottert, kann es sehr gut sein, dass das nur entwicklungsbedingt ist und von alleine wieder weggeht. Buchstabenverdreher – dass ein Kind beispielsweise „Kasse“ statt „Tasse“ sagt – kommen auch häufig bei Kindern vor und sind meist völlig normal. Wir raten davon ab, das eigene Kind mit anderen zu vergleichen. Die Entwicklung ist sehr individuell. Aber Eltern können aufmerksam werden, wenn sie vermehrt aus dem nahen Umfeld auf die Sprach- oder Sprechentwicklung des Kindes angesprochen werden. Wenn Großeltern oder Erzieher widerspiegeln, dass sie das Kind nur schwer verstehen. Die eigenen Eltern sind da kein Maßstab – sie verstehen ihr Kind immer (lacht).

Ein weiterer Hinweis ist, wenn das Kind häufig traurig oder frustriert ist, weil es sich nicht verständlich machen kann. Manches lässt sich auch ganz einfach selbst testen: Der Wortschatz eines 2-jährigen Kindes umfasst etwa 50 Wörter. Dazu gehören auch „Wörter“ wie „Wauwau“ oder „Miau“. Notieren Sie alle diese Wörter und zählen Sie durch. Solange Sie nicht weit unter 50 liegen, ist alles in Ordnung. Ansonsten wäre es empfehlenswert, den Handlungsbedarf zu prüfen. Oft hört man ja „Das wächst sich raus.“

Das lässt sich jedoch nicht pauschal sagen. Pauls niedliches Lispeln als kleiner Junge ist vielleicht eher hinderlich, wenn er 35 ist und einen Beruf ergreift, in dem er viel vor anderen Menschen reden muss. Auch den Stimmklang (wie nasal oder im anderen Extrem ohne Nasale gesprochen wird) nimmt mein Gegenüber bewusst oder unbewusst wahr. Bei Kindern lässt sich daran relativ leicht arbeiten, bei Erwachsenen wird es schon herausfordernder. Ein erfahrener Logopäde sieht und hört aber relativ schnell, ob etwas behandlungsbedürftig ist. Ob beispielsweise nur eine Zungenschwäche vorliegt oder der gesamte Muskeltonus im Gesicht eingeschränkt ist. Das sind kaum wahrnehmbare Feinheiten, die man als Nicht-Fachmann nicht erkennt.

Bona Lingua Logopädie
Manche sprachlichen Auffälligkeiten bei Kleinstkindern sind entwicklungsbedingt und bedürfen keiner Therapie.

An wen wende ich mich, wenn ich als Elternteil das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmen könnte? An den Kinderarzt? Oder an Sie direkt?
Der Kinderarzt ist in der Regel der erste Ansprechpartner. Oft werden Auffälligkeiten schon bei den Früherkennungsuntersuchungen entdeckt. Eltern können sich aber auch immer direkt an einen Logopäden wenden. Oft lässt sich bereits in einem Telefonat klären, ob ein Beratungsgespräch vereinbart werden sollte. Wenn das nicht notwendig ist, fühlen sich Eltern meist durch die Rücksprache trotzdem beruhigt. Das überträgt sich natürlich dann auch auf das Kind, es kann sich befreiter fühlen. Oft wird bei uns auch nachgefragt, welcher Arzt denn der richtige ist für ein vorliegendes Symptom, Hausarzt, Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder ein anderer. Im besten Fall besteht im Sinne des Patienten ein guter Austausch zwischen Arzt und Logopäde.

Stottern wird bei Kleinstkindern häufig überschätzt, Bilingualität unterschätzt.


Gibt es Erscheinungen bei Kindern, die über- oder unterschätzt werden?
Stottern bei Kleinstkindern wird häufig überschätzt. Es kommt bei Kleinstkindern öfter vor, ist aber entwicklungsbedingt. Unterschätzt wird dagegen oft das Thema Multilingualität, also wenn Kinder zwei- oder sogar mehrsprachig aufwachsen. Es wird leider oft erst bei der Einschulung festgestellt, dass diese Kinder keine der beiden Sprachen richtig beherrschen. Mich macht das traurig, da diese Kinder nicht dieselben Chancen haben wie Kinder, die eine Sprache korrekt erlernen konnten. Dabei ist Multilingualität eigentlich ein großer Mehrwert, wenn sie richtig aufgebaut wurde und gut gelingt.

Wir bei Bona Lingua sehen das bei Kindern mit Migrationshintergrund. Das war früher kein Themengebiet für die Logopädie, da es kein Krankheitsbild ist. Allerdings ist da das Symptom, nicht richtig sprechen zu können. Und gerade im Bereich Multilingualität kann man leicht unterstützen. Für Flüchtlingsfamilien gibt es aber oft wenig Unterstützung. Sprachschulen decken zwar den Spracherwerb der neuen Sprache ab, wenn aber schon Schwierigkeiten im Erlernen der Muttersprache vorhanden sind, wird es mit der Zweitsprache natürlich noch schwieriger. Im besten Fall gibt es dann Logopäden, die sich das Kind in seiner Muttersprache anhören können, um herauszufinden, wo die Schwierigkeiten ihre Ursache haben.

Multilinguale Erziehung erfordert klare Abgrenzungen der Sprachen.


Haben Sie einen Rat für Eltern, die ihr Kind bilingual erziehen wollen?
Meine dringende Empfehlung: Sorgen Sie für eine klare Einteilung der Sprachen, dass das Kind immer versteht, wann welche Sprache gesprochen wird. Das kann an Personen gebunden sein (Papa spricht immer Englisch, Mama immer Deutsch), an Stätten (zu Hause wird Türkisch gesprochen, in der Schule Deutsch), an Situationen (beim Frühstück sprechen alle Spanisch, beim Abendessen alle Deutsch) oder auch an das Lebensjahr (die ersten drei Jahre wächst das Kind mit Französisch auf, dann kommt Deutsch dazu).

Wichtig ist, nicht innerhalb eines Satzes die Sprache zu wechseln, da das Kind dann nicht mehr unterscheiden kann, welche Wörter zu welcher Sprache gehören. Außerdem ist wichtig, dass das Elternteil die Sprache, die es seinem Kind beibringen möchte, selbst möglichst fehlerfrei beherrscht, damit sie direkt richtig angelegt wird.

Interview: Susanne Bührer

Raphaela Steinbrügge ist staatlich geprüfte Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin und Inhaberin von Bona Lingua. An fünf Standorten – Kleefeld, List, Bothfeld, Hainholz und in Burgdorf – betreut sie mit ihrem Team große und kleine Patienten.

Das vollständige Interview mit Raphaela Steinbrügge von Bona Lingua…

… lesen Sie in unserer aktuellen radius/30 Winterausgabe. Darin unter anderem die Antworten auf die Fragen, wer Anuki ist, wie Videotherapie eingesetzt wird und wie Logopädie bei Biligualität unterstützen kann.

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