Interview: Bernd Schwope
Seit 2020 führt Dr. Vanessa Erstmann als Vorsitzende die Geschicke des renommierten
Jazz Club Hannover. Wie sie zu diesem Amt kam und warum dies ganz viel mit der Stadtgeschichte und Imagepflege Hannovers zu tun hat, erzählte sie radius/30.
radius/30: Bei der Terminabsprache zu diesem Interview erwähntest du, stark eingespannt zu sein. Woran liegt’s?
Erstmann: Bei mir ist tatsächlich viel los, weil ich beruflich in zwei Großprojekten stecke und nebenbei an der letzten Korrekturschleife meines Buchs sitze. Viele wissen, dass ich Vorsitzende eines Jazz Clubs bin, aber das mache ich ehrenamtlich nebenbei. Im Hauptjob arbeite ich Firmengeschichten auf. Ich bin ja promovierte Historikerin. Was ich leidenschaftlich gerne mache, ist, wie ein Detektiv in Archiven und Bibliotheken den Geschichten hinter einem Unternehmen oder einer Marke auf die Spur zu kommen. Dabei versuche ich, die Unternehmensidentität herauszufiltern und als Marketing-
instrument für die Markenpflege nutzbar zu machen. Schließlich ist die Geschichte eines Unternehmens das Alleinstellungsmerkmal schlechthin. Der Begriff dazu ist History Marketing.
Deine Arbeitgeber sind also Unternehmen?
Ja, und zwar Unternehmen ganz unterschiedlicher Art. Aktuell bin ich für eine große Versicherung aus Braunschweig tätig und unterstütze außerdem ein großes Projekt aus der hannoverschen Wohnungswirtschaft. In beiden Fällen waren große Jubiläen der Anlass, die Geschichte aufarbeiten zu lassen. Aber die Produkte sind unterschiedlich. Beim Braunschweiger Kunden unterstütze ich bei der Produktion von animierten History Clips für die Social-Media-Kanäle. Im anderen Fall entsteht ein modern gestaltetes Magazin als Printprodukt. Weil ich viel im Bereich PR/Marketing tätig bin und ursprünglich mal Journalistin werden wollte, schaue ich sozusagen bei aller wissenschaftlich fundierten Recherchearbeit auch immer durch die Marketingbrille und versuche, beides zu verbinden. Am Ende sollte ein spannend geschriebenes und gestaltetes Produkt entstehen, das Menschen gerne in die Hand nehmen und das identitätsstiftend für das Unternehmen, die Mitarbeiter, Kunden und Geschäftspartner wirkt. Als Marketingtool lässt sich mit der eigenen Geschichte aber auch Glaubwürdigkeit und Vertrauen stiften, weil sie zeigt, dass ein Unternehmen bereits viele Herausforderungen gemeistert hat.
Deine Tätigkeitsbeschreibung deutet auf einen recht abwechslungsreichen Job hin.
Ja, aber gerade das macht mir viel Spaß; einerseits die Detektivin, die in der Unternehmensgeschichte wühlt, andererseits der kommunikative Austausch mit verschiedenen Unternehmensabteilungen und Agenturen. Wo kommt das Unternehmen her, wo will es hin und wie lässt es sich mit der aktuellen Marktpositionierung optimal verknüpfen? Das fasziniert mich. Zusätzlich begleite ich noch die Unternehmenskommunikation für einige Stammkunden. Etwa im Bereich Wohnungswirtschaft, aber auch im Handwerk. Ich bin breit aufgestellt.
Sprachst du nicht auch von einem Buch?
Meine Dissertation, die ich 2021 erfolgreich abgeschlossen habe und die online schon veröffentlicht wurde, möchte ich auch als Buch in den Händen halten. Die Stadt Hannover gibt es nun heraus. Es passt auch bestens in die Reihe der „Hannoverschen Studien“, da ich mich mit einem Teil der jüngeren Stadtgeschichte befasst habe, der so bislang noch nicht erforscht war. Mein Thema war das Image Hannovers und die Image-Arbeit des 20. Jahrhunderts. Ich habe circa 150 Jahre zurückgeschaut und die Stadtwerbung vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 2000er-Jahre untersucht. Also von der frühen Stadtwerbung bis zur professionellen Imagepolitik, die ab den späten 1960er-Jahren angelaufen ist. Damals ist Hannover sehr mutige und beispiellose Wege in der Imagepolitik gegangen. Hannover ist gerade deshalb solch ein spannendes Forschungsfeld, weil die Stadt dennoch bis heute unter hartnäckig anhaltenden Vorurteilen leidet. Daher habe ich auch danach gefragt, welche Rolle Medien und Stereotypisierungen spielen; also inwiefern Maßnahmen zur Imagebesserung durch Vorurteile gehemmt werden können.
Nun wird deine Forschung also in Form eines Buches für die ganze Öffentlichkeit einsehbar sein?
Genau. Allerdings in gekürzter Fassung. Die wissenschaftliche Debatte, die solch eine Arbeit durchdringen muss, ist stark eingestampft für die Leserschaft, die diese Vorgänge prägnant erzählt bekommen möchte. Hat Hannover die Anfänge der Stadtwerbung verschlafen oder woran liegt es, dass sich die Vorurteile so hartnäckig halten? Dazu habe ich unheimlich viele Akten eingesehen; alles, was ich in die Finger bekommen konnte. Ein besonderes Highlight war für mich – und das war auch der Aufhänger für meine Arbeit – der Nachlass des ehemaligen Stadt-
imagepflegers und Jazz-Club-Vorsitzenden Mike Gehrke. Dieser Bestand ist deshalb so spannend, weil Mike Gehrke in seinem Amt als Imagepfleger direkt dem Oberstadtdirektor unterstellt war. Das gab es in keiner anderen westdeutschen Stadt. Hannover versuchte, ab den frühen 1970er-Jahren neue Wege zu beschreiten, hat dabei auch als Vorbild für andere Städte fungiert. Insgesamt habe ich ungefähr 300 Aktenordner allein aus dem Gehrke-Nachlass im Stadtarchiv erschlossen. Und als ich damit durch war, habe ich im Jazz Club nach weiteren Akten aus Gehrkes Ära gefragt.
Womit wir beim Jazz Club sind. Wenn ich das richtig sehe, bist du über dein Studium zum Image Hannovers auf Mike Gehrke und den Jazz Club gestoßen? Oder hast du schon vor 20 Jahren gesagt, irgendwann will ich mal Jazz-Club-Vorsitzende werden?
Nein. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es mal so sein würde. Aber das Leben schreibt manchmal die besten Geschichten. Es war so, dass ich bei der Durchsicht des Gehrke-Nachlasses im Stadtarchiv feststellte, dass dort unfassbar viele Informationen zu seinen ganzen Aktionen zu finden waren. Sei es der Flohmarkt, das Altstadtfest, die Straßenkunst mit den Nanas oder eben die Jazzveranstaltungen. Seinen Ansporn, das Image und damit die Stadt voranbringen zu wollen, teile ich.
Hast du Mike Gehrke persönlich kennengelernt?
Leider nicht. Als Mike Gehrke im Juni 2004 starb, hatte ich gerade mein Abi gemacht. Ich wusste zwar, wer Mike Gehrke war, habe ihn aber nie bewusst getroffen. In den Akten fand ich dann die ganzen Infos über seine Aktivitäten. Aber seine persönlichen Gedanken oder wie er so getickt hat, waren nur bedingt greifbar. Ich habe daher auch mit Zeitzeugen gesprochen und Interviews geführt. Sehr geholfen hat mir Karl-Ernst Bungenstab, ein ehemaliger Kulturdezernent und Freund Gehrkes. Als er mitbekam, dass ich über seinen Freund forsche, hat er mich kontaktiert. Er war es auch, der mir den Zugang zum Jazz Club verschafft hat.
Und über die Beschäftigung mit Mike Gehrke bist du zu deinem Engagement im Jazz Club gekommen?
Genau so war es. Mein Eindruck war, dass Mike Gehrke, der gefühlt 24/7 gearbeitet hat, alles parallel gemacht hat. Soll heißen: Er hat den Jazz Club immer stark in seine Imageaktivitäten eingebunden. Das hat sich auch in seinen Unterlagen widergespiegelt. Im Stadtarchiv habe ich Aktenordner entdeckt, die eigentlich dem Jazz Club gehörten. Da war der Gedanke naheliegend, dass im Jazz Club vielleicht noch Material liegt, das mit seiner städtischen Imagepflege zu tun hat. Und so war es dann ja auch. Das konnte ich schon beim ersten Blick in die Schränke des Jazz Clubs feststellen. Als dann klar war, dass ich auch die Unterlagen des Jazz Clubs für meine Forschung einsehen wollte, haben mir die Clubmitglieder einen Arbeitsplatz in der ehemaligen Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss eingerichtet. Dort habe ich dann nochmal rund 200 Aktenordner durchgeblättert.
Das war bestimmt eine Arbeit, die nicht an zwei Nachmittagen zu bewältigen war?
Nein, das hat etliche Monate gedauert, zumal ich die Unterlagen parallel nach Archiv-Standards aufbereitet habe. Das heißt, ich habe die einzelnen Blätter von bereits rostigen Metallklammern befreit und in säurefreie Verpackungsmaterialien umgebettet. Dann haben die einzelnen Akten eine Signatur bekommen und sind als Leihgabe an das Stadtarchiv Hannover übergeben worden, wo sie nun für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Das war auch insofern sinnvoll, weil diese Dokumente im Club irgendwann vergammelt wären – Papier hat halt nur eine gewisse Halbwertszeit. Bei der Durchsicht der Unterlagen wurde mir schnell klar, dass ich nur einen Bruchteil der spannenden Clubgeschichte für meine Doktorarbeit verwenden konnte. Aber 2016 stand ja das 50-jährige Jubiläum des Clubs an. Es war also sinnvoll, zu Papier zu bringen, was ich recherchiert habe. Also produzierten wir ein schönes Jubiläumsbuch. Im Schallplattenformat. Das kam gut an.
Aber wie wird man dann als Doktorandin, die in Akten im Jazz Club wühlt, Vorsitzende eines der ältesten und renommiertesten Jazz Clubs Deutschlands?
Ich bin so toll aufgenommen worden in der Jazz-Club-Familie, dass ich schließlich selbst Clubmitglied geworden bin. Je mehr ich mich mit dem Verein und seiner Geschichte beschäftigte, desto mehr fiel mir auf, dass der Club einen sehr veralteten Webauftritt hatte und sich niemand konsequent um die Öffentlichkeitsarbeit, geschweige denn Social-Media-Aktivitäten kümmerte. Und wie das in einem Verein so läuft, folgte auf meine zaghaften Vorschläge gleich die Ansage: Prima, Vanessa, dann mach mal. Damit lag die Jazz-Club-PR in meinen Händen. 2017 bin ich dann in den Vorstand gewählt worden, um die Außenwahrnehmung des Clubs zu modernisieren. In Sachen Außenwahrnehmung war es sicherlich auch von Vorteil, dass eine junge Frau im Vorstandsteam das Klischee vom älteren Herrenverein aufbrach. So bin ich immer mehr hineingewachsen und habe den Club zunehmend bei unterschiedlichen Gelegenheiten mit repräsentiert. Und zwei Jahre später wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, den Vorsitz zu übernehmen.
Wie lange warst du zu diesem Zeitpunkt schon für den Club tätig?
Insgesamt knapp fünf Jahre. Das war 2020. Und dann kam Corona.
Nicht unbedingt der beste Zeitpunkt!
Ich bin aber dennoch dabeigeblieben.
Für eine frisch gewählte Jazz-Club-Vorsitzende waren das bestimmt Herkules-Aufgaben. Wie bist du damit umgegangen?
Zum Glück musste ich die Herausforderungen nicht allein bewältigen. Außerdem hatten wir die Clubräume kurz zuvor generalüberholt und eine neue Belüftungsanlage eingebaut. Ein glücklicher Umstand, wie sich zeigen sollte. Als ich 2017 zusammen mit meinem Vorstandskollegen René Rooimans in den Vorstand gewählt wurde, sind wir beide mit der Aufgabe betraut worden, den Club umzustrukturieren. Wir haben innerhalb von zwei Jahren viel modernisiert. Nicht nur die Belüftung, sondern auch den Sound, die Beleuchtung und die Website sowie die ganzen Printmedien, also die Programmhefte und Plakate. Wir hatten also einen top nachgerüsteten Club mit toller Akustik und besten klimatischen Bedingungen und neuem Auftritt. Corona zog uns dann einen Strich durch die Rechnung. Der Club konnte nicht mehr bespielt werden. Und ja, genau in die Zeit fiel der Wechsel in der Verantwortung. Aber zu dem Zeitpunkt war ich mit den Clubstrukturen bereits bestens vertraut und absolut zuversichtlich. Nur haben wir damals nicht für möglich gehalten, dass diese Pandemie sich über einen so langen Zeitraum erstrecken würde, und nicht bedacht, was das für die Live-Kultur bedeutet.
Die sich ja jetzt erst von den Restriktionen der Zeit erholt. Wie siehst du die Zeit in der Retrospektive?
Unser Standpunkt war: Wir machen weiter, um die Kultur am Leben zu halten. Die Auflagen und der damit einhergehende Aufwand damals waren ja der Wahnsinn. Ich weiß noch, dass wir sehr viel Arbeit in ein Hygienekonzept gesteckt haben, das auch vom Gesundheitsamt gelobt und der Presse präsentiert wurde. Einen Tag nach der Pressemeldung kam dann der Lockdown, der ein Dreivierteljahr anhalten sollte. Das hat uns so richtig schmerzhaft ausgebremst. Eine frustrierende Zeit, für die es in der Geschichte des Clubs keine vergleichbare Situation gab. Hoffentlich müssen wir das nicht noch einmal erleben.
Das vollständige Interview mit Vanessa Erstmann …
… finden Sie in der radius/30 Ausgabe November/Dezember.