Waldbaden und Wildkräuter: Unterwegs im Herzen Hannovers

10. Mai 2023 / Aktuell

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Es regnet. Und es ist kalt. Auf dem Platz vor dem Zoo Hannover ist an diesem Samstagmorgen noch nicht viel los. Das Wetter ist auch nicht besonders einladend. Ich treffe mich mit einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich von Regen und Kälte nicht abschrecken lassen, um mit Sascha Herwick und Feli Selter in die Eilenriede zu ziehen. Auf dem Programm: Waldbaden und Wildkräuter kennenlernen im Stadtwald von Hannover

Text: Susanne Bührer

Nach einer kurzen Begrüßung ziehen wir direkt los. Sascha, gelernter Kinderkrankenpfleger, Psychologe und Experte für Waldbaden, wird uns in der ersten Stunde anschaulich zeigen, was sich hinter Waldbaden verbirgt. Feli, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Philosophin und Wildkräuter-Pädagogin, geht mit uns in der zweiten Stunde auf die Suche nach den Wildkräutern, die mitten in der Großstadt Hannover in der Eilenriede wachsen. Als wir den Wald betreten, bittet Sascha uns, nicht nur die Smartphones stummzuschalten, sondern auch selbst schweigend weiterzugehen. In einem ruhigen Tempo. Es fällt mir schwer, mich der Langsamkeit anzupassen. Bin ich es doch eher gewohnt, flotte Runden mit dem Hund zu drehen.

Kleine Aufmerksamkeitsübungen stimmen uns aufs Waldbaden ein. Wir sollen uns auf unterschiedliche Sinne konzentrieren und beispielsweise fünf unterschiedliche Naturgeräusche wahrnehmen, also Geräusche, die nicht durch Menschen entstehen. Ich lausche. Höre die Autos auf der Bernadotteallee. Das Schlurfen der Gummistiefel des kleinen Mädchens, das uns begleitet. Den Knall auf der Baustelle hinter dem Zoo. Vogelgezwitscher. Das Rauschen der Bäume im Wind. Den Regen, der auf die Blätter tropft. Aha, da sind sie – die Naturgeräusche. Mir fällt auf, dass ich mich plötzlich wie von selbst dem langsamen Tempo angepasst habe. Ich atme tief durch. Es ist nicht viel los in der Eilenriede. Vereinzelt kreuzt ein Hundebesitzer oder eine Joggerin unsere schweigende Gruppe. 

Waldmedizin: Bäume und unsere Gesundheit

Auf einer kleinen Wiese halten wir an und werden von Sascha zu einer Willkommens-Meditation eingeladen. Wir stellen uns im Kreis auf und drehen uns nach außen. Ich blicke in den Wald und lasse mich darauf ein, Saschas Stimme zu folgen. Achte auf meine Atmung und meinen Körper. Und entspanne merklich. Als wir uns wieder umdrehen, sagt Sascha: „Herzlich willkommen beim Waldbaden“. Shinrin-Yoku (japanisch für „Baden im Wald“) kommt aus Japan und ist dort fester Bestandteil eines gesunden Lebensstils. Es bedeutet, mit allen Sinnen in die Natur und den Wald einzutauchen und die positiven Aus-wirkungen auf unsere Gesundheit wahrzunehmen. 

Seit einigen Jahrzehnten untersuchen japanische Forscherinnen und Forscher, welche Wirkung die Bäume auf uns haben. Waldmedizin ist an japanischen Universitäten ein anerkanntes Forschungsgebiet. Die Ergebnisse ihrer Studien: Bereits ein kurzes Waldbad verbessert Atmung, Puls und Blutdruck. Waldbaden entfaltet daher seine wohltuende Wirkung insbesondere bei Schlafstörungen, Depressionen, psychischen Belastungen, Burn-out und Herz-Kreislauf- Beschwerden. Es wird davon ausgegangen, dass die therapeutische Wirkung auf Terpenen, den Duftstoffen ätherischer Öle, beruht, die ein Baum über seine Rinde und Blätter ausdünstet. Nimmt der Mensch sie über Haut und Lunge auf, beruhigt sich der Sympathikus, ein Teil des vegetativen Nervensystems. Diese Wirkung spürte Sascha Herwick auf seinem Arbeitsweg, der ihn mit dem Fahrrad durch ein kleines Waldstück führte. Für seine Arbeit als Kinderkrankenpfleger und Psychologe musste er wach und leistungsfähig sein, obwohl sie ihn gleichzeitig oft an seine Grenzen brachte. Die Aufenthalte im Wald halfen ihm, zu entspannen und wieder Kraft aufzutanken. Heute verbringt er regelmäßig Wochenenden alleine oder mit Gruppen im Wald und begeistert Menschen mit Coachingelementen sowie Körper- und Achtsamkeitsübungen für das Waldbaden.

Wildkräuter Hannover

Wildkräuter in Hannover: voller Geschmack und Nährstoffe

Nach einem kurzen theoretischen Abriss übers Waldbaden werden wir aktiv: Feli steckt uns mit ihrer Begeisterung für die kleinen grünen Gewächse an. Giersch, Klettenlabkraut, Vogelmiere und Taubnessel – in einem kleinen Radius um uns herum wachsen bereits zahlreiche schmackhafte Wildkräuter. Mit kleinen Fähnchen bestimmen wir unsere Funde. Wir lernen, woran wir sie erkennen und auch von anderen ähnlichen Gewächsen unterscheiden können. Den Stängel einer Vogelmiere bricht Feli durch und zeigt uns den Faden, der bestehen bleibt und sich nicht durchbrechen lässt. Ein charakteristisches Merkmal. Die Vogelmiere ist gerade für Einsteiger gut geeignet, da sie mild im Geschmack ist und an Erbsen oder Mais erinnert.

Überhaupt rät Feli zu einem „sanften Einstieg“ in den Geschmack der Wildkräuter. Oft ist er für uns ungewohnt. Wildkräuter sind die Vorläufer unserer Kulturpflanzen und nicht durch Züchtung verändert. Durch Züchtung wird das hervorgehoben, was wir gerne mögen: süßlicher Geschmack, wenig Bitteres oder Saures, hoher Ertrag, große Blätter oder Früchte und gute Lagerbarkeit. Diese Optimierung kann aber auch zulasten des Nährstoffgehalts gehen: Wildkräuter enthalten oft mehr Mineralien und Vitamine als ihre Verwandten aus dem Supermarkt. Die Vogelmiere enthält beispielsweise doppelt so viel Kalzium, dreimal so viel Kalium und Magnesium und siebenmal so viel Eisen wie Kopfsalat. Geschmacklich bieten Wildkräuter von süß über nussig bis bitter und herb eine große Vielfalt.

Mit der Natur gehen

„Der Winter ist deutlich kürzer, wenn man beginnt, sich mit Wildpflanzen zu beschäftigen, denn es ist erstaunlich, wie früh im Jahr man bereits – manchmal unter einer Schneeschicht – die ersten Wildkräuter entdecken kann. Und sie wachsen bis weit in den Herbst hinein“, erzählt Feli. „Wildkräuter sind oft auch Heilpflanzen: Die Natur liefert uns das, was wir brauchen. Im Frühjahr wachsen die Wildkräuter, die viele Nähr- und Bitterstoffe enthalten und uns nach dem Winter wieder fit machen. Deshalb ernten wir die Pflanzenteile, in die die Pflanze die meiste Kraft steckt: Zu Beginn ihres Wachstums die Blätter, wenn sie beginnt zu blühen die Blüten oder Früchte, später im Herbst dann Wurzeln und Zwiebeln. Häufig kann man eine Pflanze auch mehrfach im Jahr frisch ernten, weil sie nachwächst. Auf dieser Wiese hier, auf der wir stehen, wird der Giersch neu nachwachsen, wenn sie im Sommer einmal gemäht wurde.“

Pur im Salat, gekocht, gebacken oder eingelegt – die Zubereitungsmöglichkeiten sind extrem vielfältig. Eine kleine Verkostung hat Feli vorbereitet: Wir dürfen einen selbst gemachten Holunderbeeren-Schlehen-Likör probieren. Er schmeckt fruchtig und herb – eine leckere Kombination. Doch wo pflückt man Wildkräuter in Hannover am besten? „Ich pflücke nicht an großen und stark befahrenen Straßen wegen der Abgase und nicht zu dicht am Wegesrand wegen der Hinterlassenschaften von Hunden. Brennnesseln sind Stickstoffanzeiger, sie wachsen gerne da, wo viele Hunde markiert haben. Deshalb stehen auch oft viele direkt am Wegesrand“, erklärt Feli. „Ich gehe immer fünf bis zehn Meter vom Weg runter und sammle dort. Auch wichtig bevor man zugreift: Macht euch erst einen Überblick über den Bestand einer Pflanze. Die erste Pflanze wird nur angeschaut und bestimmt, aber nie mitgenommen. Erst wenn offensichtlich ist, dass es einen größeren Bestand gibt, wird geerntet. Und auch dann mit Bedacht: Ich setze mich nicht in ein Bärlauchfeld und ernte rund um mich herum alles kahl, sondern bewege mich und pflücke an unterschiedlichen Standorten, um den Bestand zu erhalten. Ein Richtwert ist immer, dass man gar nicht sehen sollte, dass etwas abgepflückt wurde. Dann schadet es der Natur nicht.“

Pflanzen bestimmen

Um die Verwechslung mit ähnlichen, vielleicht giftigen Vertretern auszuschließen, ist eine genaue Bestimmung wichtig. Feli empfiehlt, immer zweifach zu bestimmen: „Beispielsweise mit einer guten Pflanzen-Bestimmungs-App wie Flora Incognita von der TU Ilmenau und einem Pflanzenbestimmungsbuch.“ Doch Essbares wächst nicht nur am Boden. Als wir zurückgehen zu unserem Treffpunkt am Zoo, frage ich Feli, ob man denn auch die jungen Blätter der Bäume essen könne – das hatte ich gelesen. „Klar kann man das. Sie schmecken lecker.“ Sprichts, schaut sich kurz um, pflückt ein Blatt vom Baum und drückt es mir in die Hand. „Hier – ein junges Spitzahorn-Blatt. Probier mal.“ Nach einem kurzen Zögern kaue ich vorsichtig ein Stückchen. Es schmeckt erstaunlich süßlich und erinnert mich ein bisschen an Salat. Apropos Salat – den gibt es bei mir zum Abendessen. Mit der ersten selbst gesammelten Vogelmiere darauf. Lecker!


Weitere Infos zum Waldbaden

Waldbaden als Schnupperkurs, After Work, mit Kakaozeremonie oder als Teil der Betrieblichen Gesundheitsvorsorge – Sascha Herwick bietet unterschiedliche Formate für Waldbaden und Naturerfahrungen an. Sie finden ganzjährig und vorzugsweise in der Eilenriede und im Großraum Hannover statt.
www.waldbaden-hannover.de

Weitere Infos über Wildkräuter-Wanderungen in Hannover

Als überzeugte Stadtpflanze und Naturfreundin hat sich Felicitas Selter auf essbare Wildpflanzen im urbanen Raum spezialisiert. Ihre Wildkräuter-Spaziergänge finden dementsprechend überall dort statt, wo Natur und Stadt aufeinandertreffen – vorzugsweise in der Eilenriede und an anderen wild-urbanen Orten in Hannover.
www.fleurban.de

Aus radius/30, Ausgabe Mai/Juni

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