März 2020: erster Lockdown. November 2020: Lockdown light. Dezember 2020: harter Lockdown. April bis Juni 2021: Bundesnotbremse. Wie ist es dem Einzelhandel in und um Hannover in der Corona-Zeit und während der Lockdowns ergangen? Und wie geht es heute? Wir haben Unternehmerinnen und Unternehmer aus unterschiedlichen Branchen zu ihren Erfahrungen befragt. Im ersten Teil der Serie erzählt Julia Heuser von Liebe + Zeug, was sie in den letzten Monaten erlebt hat.
In den Gesprächen wurde deutlich, dass die soziale Komponente während der Pandemie eine noch größere Rolle spielte als ohnehin schon – sowohl der Austausch mit der Kundschaft als auch der Zusammenhalt innerhalb der Teams. Außerdem wurde bei allen Befragten der „Selbstständigen-Spirit“ deutlich: Sie warteten nicht ab, sondern wurden kreativ und packten an – entschlossen, mit einfallsreichen Produkten oder neuen Vertriebswegen einen Weg aus der Krise zu finden.
BH Lounge – persönliche Beratungen online
„Endlich passende BHs“ ist der Slogan von Anne-Luise Lübbe. Seit 2012 hilft sie mit ihrem Team, gut sitzende BHs und Bademode zu finden. Normalerweise berät sie in ihrer BH Lounge in der Südstadt Hannovers – während des Lockdowns stellte sie innerhalb eines Tages auf Onlineberatungen um.
radius/30: Frau Lübbe, wenn Sie auf die letzten Monate zurückblicken – wie ist es Ihnen ergangen?
Anne-Luise Lübbe: Wir haben viel gelernt. Wir mussten nicht in Kurzarbeit und konnten unser Team in den letzten Monaten sogar vergrößern – aber es gab auch oft Phasen, in denen wir nicht so richtig wussten, wie es weitergehen soll. Als alles begann, hatten wir gerade eine umfangreiche Modekollektion vorbestellt und konnten diesen Auftrag nicht einfach stornieren. Auf der einen Seite stand also eine große Summe, die bezahlt werden musste, auf der anderen Seite brach unser Verkauf vor Ort von einem Tag auf den anderen komplett weg. Wir haben dann im Team beschlossen, dass wir nicht nichts machen, sondern für unser Überleben kämpfen und Onlineberatungen anbieten.
Was sind die wichtigsten Learnings aus dieser Zeit?
Ich habe mein Team stark eingebunden, insbesondere auch in finanzielle Dinge, und ihnen meine Entscheidungen transparent gemacht. Wir haben darüber gesprochen, wer sein Gehalt einige Tage später bekommen kann und wer es dringend zum Monatsersten braucht. Ich selbst habe drei Monate komplett auf Gehalt verzichtet, mein Team konnte ich zum Glück immer bezahlen. Außerdem haben wir erlebt, dass der Arbeitsaufwand für uns höher war – eine Beratung im Laden ist deutlich schneller als online. Da muss man erst erklären, was es überhaupt gibt, die Ware verschicken, sie passt vielleicht nicht gleich auf Anhieb und muss umgetauscht werden. Dann führt man noch mal eine Onlineberatung durch, erklärt die Einstellmöglichkeiten der BHs usw. Das braucht Zeit.
Wie denken Sie über die Corona-Politik in Hinblick auf staatliche Unterstützung?
Erste Soforthilfen sind sofort gekommen und waren hilfreich, um die ersten Wochen zu überbrücken, in denen der Laden komplett geschlossen war. Doch die folgenden Hilfen waren nicht mehr richtig passend – beispielsweise fielen unsere Warenlieferungen da nicht rein und wir mussten im Frühjahr neue Kollektionen bestellen. Das Frühjahr ist wegen der Bademode unsere Hauptsaison, in diesem Zeitraum machen wir den meisten Umsatz.
Die Umsätze waren aber natürlich schwer zu schätzen und mit 2019 überhaupt nicht vergleichbar. Unsere Entscheidung war dann: Wir wollen nicht versuchen, die Bürokratie zu begreifen, sondern investieren diese Zeit und Energie in unser Unternehmen. Wir haben uns darauf konzentriert, interne Prozesse zu vereinfachen, zu verstehen, was die Menschen brauchen und wie unsere Produkte zu ihnen kommen können. Wir haben uns vom Staat ein bisschen allein gelassen gefühlt und uns einfach selbst durchgebissen.
Was würden Sie noch mal genauso machen, was vielleicht nicht mehr?
Die Zeit hat mein Team und mich zusammengeschweißt. Wir haben uns überlegt, wie wir die Arbeitsatmosphäre nett gestalten können. Ohne Kund*innenverkehr haben wir oft morgens später angefangen und abends länger gearbeitet, uns Essen bestellt oder Musik gehört.
Innerhalb eines Tages haben wir auf Onlineberatungen umgestellt. Ich habe die Beratung so erlernt und dachte „Das kann ich“. Also haben wir ein gemeinsames Mailpostfach eingerichtet, auf das alle aus dem Homeoffice Zugriff hatten, und wir haben in sozialen Netzwerken Infothreads erstellt, wie eine Onlineberatung abläuft. Die Anfragen haben uns dann ehrlich gesagt ziemlich überrollt, die Nachfrage war riesig. Die Leute hatten einfach das Gefühl, dass wir von der BH Lounge für sie da sind. Wir haben uns im Team eng abgestimmt, was wir wem empfehlen. Schließlich ist die Beratung online nach Maßen und Bildern eine völlig andere als nach Augenmaß an einer realen Person. Und wir haben das Warenlager digitalisiert, um sehen zu können, was an Ware überhaupt vorrätig ist.
Unsere wichtigste Plattform war dabei Twitter. Wir haben außerdem Livevideos genutzt, bei denen wir selbst die Wäsche getragen haben, um zu zeigen, wie sie an Menschen aussieht, die keine Modelmaße haben und die Zuschauer*innen konnten Fragen stellen. Wir bewerten nicht, wir geben keine Tipps, wie man etwas kaschieren kann, wir schauen einfach mit fachlichem Blick, was unsere Kundschaft glücklich macht. Wir haben bei den Onlineaktivitäten stark auf Sicherheit gesetzt: Wir haben einen eigenen Server, über den Videocalls gehostet werden, und die Möglichkeit für verschlüsselte Mails.
Was wünschen Sie sich für die kommende Zeit?
Eine klare Aussage, ob es noch mal einen Lockdown geben wird. Und in Verbindung damit transparentere Informationen beispielsweise eine Webseite bei der IHK oder der Stadt Hannover, bei der für Gewerbetreibende eindeutig an einem zentralen Ort klar wird, was die Corona-Regeln sind. Das wird immer unübersichtlicher. Deshalb fahren wir im Moment einen eher vorsichtigen Kurs. Wenn sicher ist, dass kein Lockdown mehr kommt, würden wir bei der BH Lounge aufstocken und noch einstellen. Aber auch weiter in die Zukunft gesehen glaube ich, dass durch den Klimawandel weitere Herausforderungen auf uns zukommen – Stichwort Rohstoffknappheit oder kompliziertere Lieferketten. Insgesamt sehe ich es aber recht entspannt: Wir haben das jetzt geschafft, wir schaffen auch alles andere. Die Menschen supporten uns – manche haben einen 200-Euro-Gutschein gekauft und nicht eingelöst. Uns hat das gezeigt, dass wir uns auf unsere Kundinnen verlassen können. Vielleicht ist das auch eine Folge davon, dass wir als Team uns digital „zeigen“ – ich habe immer über Twitter sehr offen und transparent kommuniziert, wie es uns geht. Für meine Kolleginnen im Einzelhandel würde ich mir in Zukunft mehr Unterstützung bei der Digitalisierung wünschen. Vor allem für stationäre Einzelhändler*innen, die vielleicht nicht viel Ahnung davon haben und nicht auf Förderungen zurückgreifen, weil sie gar nicht wissen, was sie überhaupt brauchen. Und die Innenstadtmieten sind zu teuer. Ich wünsche mir realistischere Mieten – das würde für mehr Vielfalt in der Innenstadt sorgen.