Viele Studenten sind durch Corona in Finanznot geraten. Das Studentenwerk fordert mehr Unterstützung von der Politik.
Von Christian Herde
Marie* nimmt ein Sommerkleid aus der Plastikverpackung, streift es über einen Bügel und hängt es auf die Kleiderstange. Kein berichtenswerter Vorgang, normalerweise, doch für die hannoversche Design-Studentin ist es ein kleiner Befreiungsschlag. Nach knapp zwei Monaten Corona-Lockdown kann die junge Frau endlich wieder in einem Bekleidungsgeschäft im Stadtteil Linden arbeiten. Die Folgen der Corona-Pandemie trafen sie früh: Im März hätte Marie auf einer Messe als Hostess arbeiten sollen, 500 Euro für fünf Tage Arbeit gingen durch die Absage verloren. Als das Bekleidungsgeschäft schließen musste, fiel auch ihr reguläres Einkommen weg. Vom Beginn des Lockdowns wurde die Studentin überrascht: „Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommt, und hatte gehofft, dass es nur zwei Wochen dauert.“ Maries Chefin bot allen Mitarbeitern, die keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld hatten, ein zinsfreies Darlehen über ein paar Hundert Euro an. „Aber das hätte ich jetzt zurückzahlen müssen und dann würde ich diesen Monat kaum Geld verdienen.“ Von ihren Eltern könnte die 26-Jährige zwar finanzielle Unterstützung bekommen, doch das lehnt sie aus Prinzip ab. Mit Mitte zwanzig will sie auf eigenen Beinen stehen.
Die Folgen des Lockdowns
Im Internet hatte Marie von Jobs an der Supermarktkasse, als Erntehelferin oder Containment Scout gelesen. „Keiner hat auf meine Bewerbungen reagiert. Das ist mir noch nie passiert.“ Die Studentin lieh sich schließlich Geld von einer Freundin, „sonst hätte ich meine Miete nicht bezahlen können.“ Unterdessen wirkte sich die Zeit der finanziellen Ungewissheit auch auf ihr seelisches Wohlbefinden aus: „Ich konnte nicht mehr schlafen, hatte ein Pfeifen im Ohr und war ständig gestresst.“ Seit Marie wieder arbeiten kann, geht es ihr besser – doch die Corona-Krise hinterlässt Spuren. Ihre Wohnung will sie bald kündigen, „die war eh schon ein bisschen teuer, aber der Lockdown hat mir dahingehend das Genick gebrochen.“ Auch ihr Studium leidet unter den Folgen des Einkommensverlustes. Denn seit den Lockerungen Anfang Mai arbeitet Marie ihre Schulden ab: „Dadurch, dass ich gerade jede Schicht annehmen muss, die ich kriegen kann, ist das sehr schwierig zu vereinbaren. Wenn es richtig gut läuft, brauche ich sechs bis acht Monate.“
Vielen fällt komplettes Einkommen weg
Mit den finanziellen Folgen der Corona-Krise steht Marie nicht alleine da. Laut dem letzten Sozialbericht des Studentenwerks Hannover aus dem Jahr 2016 sind 70 Prozent der hannoverschen Studenten nebenbei erwerbstätig. Mehr als die Hälfte davon sind fest auf Nebenjobs angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Als Mitte März die Lockdown-Maßnahmen begannen, verloren etliche Studenten ihr Einkommen. „Wir schätzen, dass die Situation für bundesweit Zehntausende, vielleicht auch Hunderttausende Studierende schwierig ist. Am meisten bei den Beschäftigten in der Gastronomie“, sagt Stefan Grob vom Deutschen Studentenwerk, dem Dachverband der Studentenwerke: „Es gibt bislang aber keine belastbaren Zahlen.“ Auch sein Kollege Eberhard Hoffmann hat solche Zahlen nicht, der Geschäftsführer des Studentenwerks Hannover berichtet aber von einem massiven Anstieg der Sozialberatungen seit Anfang April. Die Studenten erzählen von Eltern, die keinen Unterhalt mehr zahlen können, von den beliebten Messejobs, die nun ausbleiben oder von studentischen Hilfskraftstellen, die nicht mehr besetzt werden. Nach den Lockerungen des Corona-Lockdowns hofft Hoffmann auf eine allmähliche Entspannung der Lage, mahnt aber: „Wenn man sich in der Prüfungsvorbereitung auch noch darauf konzentrieren muss, einen Job zu finden, ist das zusätzlich schwer.“
Lockerungen bedeuten keine Normalität
Dass die Lockerungen für viele Studenten nicht sofort wirken, weiß die Journalistik-Studentin Theresa. Die 21-Jährige aus der Südstadt arbeitet auf 450-Euro-Basis in der Gastronomie und wird nach Stunden bezahlt. Seit das kleine Café, in dem sie als Servicekraft arbeitet, wieder für ein paar Stunden am Wochenende öffnet, hat sie noch keine Schicht bestreiten können. Priorität haben zunächst die Voll- und Teilzeitbeschäftigten. Die Unterstützung ihrer Eltern und das Wohngeld reichen gerade so für den Lebensunterhalt der Studentin, dennoch sagt sie: „Ich hab echt Glück. Ich habe keine Existenzängste und musste in den letzten Wochen lediglich häufiger als sonst Nudeln mit Tomatensoße essen.“ Mit ihrem Nebenjob wollte sich Theresa eigentlich ein Auslandssemester finanzieren – das fällt nun weg.
Notkredite für Studenten
In der Corona-Krise haben Studenten in der Regel keinen Anspruch auf Ersatzleistungen wie das Kurzarbeitergeld. Anfang April forderten deshalb das Deutsche Studentenwerk und Politiker von SPD, Grünen, FDP und Linken eine vorübergehende Öffnung des BAföG für Studenten, die eigentlich keinen Anspruch darauf haben. Am Ende setzte sich jedoch Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) durch, sie will Studenten stattdessen mit Krediten der staatlichen Förderbank KfW helfen. Maximal 650 Euro je Antragsteller soll es bis März 2021 pro Monat geben. Seit dem 8. Mai können Studenten Anträge stellen, ab dem 1. Juni sollen die ersten Gelder auf den Konten ankommen. „Besser als gar nichts“, findet Studentenwerk Hannover Geschäftsführer Hoffmann, „aber zum einen ist der Kredit nicht so günstig, wie er anfangs von der Ministerin beschrieben wurde, da die Zinsfreistellung nur für eine bestimmte Zeit gilt, zum anderen trifft die Rückzahlung einkommensschwache Studierende später am härtesten.“ Diese seien jetzt besonders gefährdet, ihr Studium abzubrechen oder auszusetzen. Kritik kommt auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund und der Gewerkschaft Verdi, welche die Kredite als „unangemessene und unzureichende Reaktion auf die Notlage vieler Studierender“ ablehnte. Der Bundesverband ausländischer Studierender findet das Programm „lebensfremd“.
Warten auf die Politik
Darüber hinaus wird in Berlin seit Wochen über eine Aufstockung des Nothilfefonds des Deutschen Studentenwerks beraten, 100 Millionen Euro sollen an notleidende deutsche und internationale Studenten verteilt werden. Doch der Plan steht noch immer ganz am Anfang. „Dieser Fonds ist bislang nur eine politische Absichtserklärung“, sagt Hoffmann, „das Geld ist noch nicht bei den Studentenwerken und es gibt auch noch keine Vereinbarung über die Bewilligungsbedingungen, die wir anlegen müssen.“ Die Verhandlungen ziehen sich hin, immerhin bis Anfang Juni die letzten Details geklärt werden – Hoffmann geht das nicht schnell genug: „Wenn ich etwas als Nothilfe bezeichne, hat das für mich eigentlich die Logik, dass ich sofort helfe.“ Dass großer Bedarf an Hilfsgeldern besteht, die nicht zurückgezahlt werden müssen, zeigt ein Beispiel aus Hessen: Ende April hatte die Landesregierung zusammen mit fünf Studentenwerken kurzfristig 250.000 Euro für in Not geratene Studenten bereitgestellt. Nach zwei Stunden waren die einmaligen Zuschüsse in Höhe von maximal 200 Euro bereits aufgebraucht. Tags darauf wurde der Nothilfefonds auf 400.000 Euro aufgestockt und das Phänomen wiederholte sich.
Was Studenten jetzt tun können
Während die hannoverschen Studenten weiter auf Hilfe vom Bund warten, warnt Studentenwerks-Geschäftsführer Hoffmann vor Kurzschlusshandlungen wie einem Studienabbruch. Stattdessen empfiehlt er: „Rat holen, darauf bauen, dass es in absehbarer Zeit einen Finanzzuschuss gibt und im Notfall über einen begrenzten Betrag das KfW-Darlehen in Anspruch nehmen. Zudem haben wir eine sehr gute Sozialberatung und Kontakte zu Jobbörsen, die wir vermitteln können.“
*Name wurde geändert
Erstlingswerk
Dieser Beitrag ist Bestandteil der Kooperation von radius/30 mit dem 2. Semester des Journalismus-Studiengangs der Hochschule Hannover unter Leitung von Prof. Stefan Heijnk, der freien Journalistin Sonja Steiner, Programmierer René Aye von Pyropixel und dem DJV Niedersachsen.