Schulen fehlt es an Ausstattung und Know-how
Seit Mitte März lernt ein Großteil der 884.781 Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen zu Hause. Doch das Homeschooling offenbart die Mängel im Bildungssystem und zeigt, vor welchen Problemen Lehrkräfte und Eltern während der Krise stehen.
Von Jule Lampe
An den Eingangstüren des Gymnasiums an der Willmsstraße in Delmenhorst kleben Schilder, die auf die Hygieneregelungen innerhalb der Gebäude hinweisen. Auf dem Boden geben Pfeile vor, auf welchen Pfaden die Kinder und Jugendlichen in der Schule gehen müssen und Absperrbänder sorgen für die Einhaltung der Abstandsregelungen auf den Fluren. „Hier ist kein Durchgang“, sagt der stellvertretende Schulleiter Karsten Kretzschmar zu einer kleinen Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die den Weg zu ihrem Klassenzimmer suchen. „Auch wenn die Maßnahmen zu Beginn noch etwas ungewohnt waren, sind wir froh, einen Teil unserer Lehre wieder vor Ort durchzuführen“, erzählt er.
Die schrittweisen Lockerungen des Niedersächsischen Kultusministeriums sorgen dafür, dass immer mehr Kinder und Jugendliche zurück in die Schule dürfen. Angefangen mit den älteren Schülerinnen und Schülern der Sekundarbereiche I + II, dürfen nun auch die jüngeren Klassen ihren Betrieb zum Teil wieder aufnehmen.
Die Tochter von Kerstin Pott geht in die 6. Klasse der Realschule an der Holbeinstraße in Delmenhorst und ist seit Anfang der Woche zurück im Präsenzunterricht. „Sie freut sich natürlich, ihre Freundinnen wiederzusehen. Der soziale Kontakt hat ihr in dieser Zeit sehr gefehlt“, erzählt die Mutter. Aber auch an der Realschule würden strenge Hygieneregelungen gelten. „Die Klasse meiner Tochter wurde geteilt und es gibt eine feste Sitzordnung und Regelungen, an die sich alle halten müssen“, berichtet die Mutter. Die Lehre im eigenen Wohnzimmer ist aber noch nicht vorbei, denn nur jeder zweite Tag wird in der Schule absolviert. „Für die restlichen Tage bekommen die Schülerinnen und Schüler nach wie vor Aufgaben, die sie eigenständig bearbeiten müssen“, erläutert sie.
Das „Lernen zu Hause“ ist schon seit Ende April für viele Kinder und Jugendliche Pflicht. Doch die zahlreichen Hilfsangebote, die seit Beginn des Lockdowns für Eltern, Kinder und Schulleitungen entstanden sind, zeigen, dass der Plan vom Homeschooling nicht einfach umzusetzen ist. Wie die Bundesregierung im März 2020 auf ihrer Internetseite schreibt, mussten viele Lehrerinnen und Lehrer innerhalb kürzester Zeit Alternativen zur Lehre vor Ort finden. Dabei wurden viele von ihnen mit schulinternen Problemen, wie dem Fehlen digitaler Kenntnisse konfrontiert.
Das berichtet auch Kerstin Pott. Ihre Tochter habe den Umgang mit digitalen Lehrprogrammen im Rahmen einer Einführungsveranstaltung der Schule erlernt. Trotzdem sei die Umstellung auf die digitale Lehre mehr als holprig gewesen. „Es war am Anfang ein großes Durcheinander. Einige Aufgaben wurden per E-Mail verteilt, andere über das schulinterne Online-Programm“, erzählt sie. „Viele Lehrerinnen und Lehrer haben bis zur Krise nie mit dem Programm gearbeitet und sich erst während der Schulschließung richtig damit auseinandergesetzt“, fügt sie hinzu.
Doch nicht nur das Fehlen von Kompetenzen im Bereich der Online-Lehre hat den Umstieg erschwert, auch das Fehlen von digitalen Endgeräten ist zum Problem geworden. Das offenbart nicht nur das Sofortprogramm der Regierung zur Beschaffung dieser Endgeräte, sondern auch die Umfrage, die die Lehrergewerkschaft VBE vorgestellt hat. Die International Computer and Information Literacy Study (ICILS) zur Medienkompetenz an Schulen im Jahr 2018 hat zudem gezeigt, dass die Nutzung von internetbasierten Anwendungen zur gemeinschaftlichen Lehre in Deutschland weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Bisher hat daran auch der Digital-Pakt aus dem Jahr 2019 nicht viel ändern können. Bund und Länder haben im Rahmen dieses Paktes beschlossen, fünf Milliarden Euro in die Schulen zu investieren, um die digitale Lehre voranzutreiben. Doch bürokratische Hürden haben dazu geführt, dass das Geld vielerorts noch nicht angekommen ist. Das zeigt auch eine Umfrage des Bitkom zur Bewilligung von Förderanträgen der einzelnen Bundesländer. Die Ergebnisse zeigen, dass nur ein Bruchteil, der in ganz Deutschland beantragten Fördergelder bis März 2020 bewilligt worden sind.
Sigrid Radetzky, Schulleiterin an der IGS Delmenhorst, berichtet, dass besonders Kinder aus sozial benachteiligten Familien unter diesem Versäumnis leiden. „Einigen Eltern fehlen schlichtweg die finanziellen Mittel, um entsprechende Endgeräte für die digitale Lehre ihrer Kinder bereitzustellen“, erzählt sie. Sie hätten es in dieser Zeit besonders schwer. „Wir haben diese Kinder während der Schulschließung mit Tablets der Schule versorgt.“ Dem Bildungsauftrag in solchen Fällen umfassend nachzukommen sei anders nicht möglich.
Eine Forsa-Befragung im Auftrag der Robert Bosch Stiftung zeigt, dass Bildungsungleichheit durch die Schulschließung weiter wachsen könnte. Die Befragung der Lehrkräfte in Kooperation mit dem Wochenmagazin „Zeit“ zeigt, dass 86 Prozent der Lehrenden glauben, dass sich der Effekt der sozialen Ungleichheit, während der Krise verstärken könnte.
Denn die digitale Lehre erfordert eine Grundausstattung der Schülerinnen und Schüler mit technischen Geräten. Das weiß auch Kerstin Pott. Denn Aufgabenblätter, wie der allseits bekannte Lückentext werden an der Schule ihrer Tochter über das schulinterne Internetportal zur Verfügung gestellt. „Ich drucke jede ihrer Aufgaben aus und hefte sie dann in einen Ordner“, erklärt die Mutter. Die Aufgaben bearbeite ihre Tochter dann meist selbstständig. Zum Hochladen ihrer Aufgaben nutze sie dann ihr Handy. Sie habe das Glück, ihrer Tochter helfen zu können, bei anderen Familien sei das schwieriger. „Diese Woche mussten die Mappen abgegeben werden. Von 14 Kindern konnten meines Wissens aber nur fünf Kinder abgeben“, erzählt sie weiter. Diese Zahl würde sinnbildlich für die vielen Probleme stehen, die in dieser Zeit für viele Schülerinnen und Schüler entstanden sind.
Aber auch andere Umstände können die Lehre im Homeschooling erschweren. Denn nicht alle Eltern können ihre Kinder trotz digitaler Endgeräte umfassend unterstützen. „Einige Eltern beherrschen die Sprache nicht gut genug, andere befinden sich im Homeoffice und schaffen es zeitlich einfach nicht“, erklärt Sigrid Radetzky.
Viele dieser Erfolge ließen sich jedoch nicht auf die Kultusministerien, sondern auf das Engagement der Schulleitungen und Lehrkräfte zurückführen. „Viele Dinge kann eine Schule auch mit Eigeninitiative umsetzen“, sagt Karsten Kretzschmar. Aber leider hätten es zu viele schlichtweg verschlafen, in die digitale Ausstattung zu investieren oder wüssten nicht wie. Das zeigt auch die aktuelle Umfrage der Lehrergewerkschaft VBE, wonach nur jede zweite Schulleitung weiß, wie Gelder aus dem Digital-Pakt abgerufen werden können. Diese Unwissenheit Probleme wie die Bildungsungleichheit lassen sich somit nicht ausschließlich auf die fehlende Digitalisierung, sondern auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückführen. Kritiker nutzen zudem Argumente wie die Gewaltdarstellungen im Internet, um die Effizienz der Digitalisierung infrage zu stellen. Petra Grimm, Tobias O. Keber und Oliver Zöllner zeigen beispielsweise in „Digitale Ethik“, welche Gefahren im Internet für Kinder Jugendliche entstehen können.
„Sicherheit ist natürlich ein Thema. Unser Lehrpersonal wird regelmäßig geschult und weiß damit umzugehen“, berichtet Sigrid Radetzky. Neue Gefahren wie Cyber-Mobbing könnten auf dem Schulhof entstehen, auch ohne die Nutzung von digitalen Geräten im Unterricht. „Unsere Sozial-Pädagogen und Sozial-Pädagoginnen sind in engem Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern und klären über die Gefahren im Internet auf“, betont die Schulleiterin der IGS Delmenhorst.
Auch Karsten Kretzschmar, stellvertretender Schulleiter am Gymnasium an der Willmsstraße, steht der Digitalisierung positiv gegenüber. Die Fort-und Weiterbildung sei in jedem Fall wichtig, aber auch durchaus machbar. „Viele Dinge kann eine Schule auch mit Eigeninitiative umsetzen“, sagt er. Die traditionelle Lehre soll durch die Digitalisierung unterstützt und modernisiert werden, denn „natürlich kann auch das beste Online-Learning-Programm die Lehre vor Ort nicht gänzlich ersetzen. Aber es hilft uns sehr, in der Krise auf E-Learning zurückzugreifen“, fügt er hinzu.
Erstlingswerk
Dieser Beitrag ist Bestandteil der Kooperation von radius/30 mit dem 2. Semester des Journalismus-Studiengangs der Hochschule Hannover unter Leitung von Prof. Stefan Heijnk, der freien Journalistin Sonja Steiner, Programmierer René Aye von Pyropixel und dem DJV Niedersachsen.