Beschwerdefrei – können wir trainieren, glücklich zu sein?

30. Juni 2020 / Erstlingswerk

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21 Tage, ohne sich zu beschweren, sich negativ zu äußern oder an etwas herumzumeckern: Das soll dem Pfarrer und Lifecoach Will Bowen zufolge zu einem glücklichen Leben führen. Kann das wirklich funktionieren?

Von Luna-Belle Kuhrt

Der Weg zur Beschwerdefreiheit

In seinem Buch erzählt Bowen davon, wie er in einer kleinen Kirche im Mittleren Westen Amerikas als Pfarrer tätig war und seine Gemeindemitglieder sich ständig bei ihm beschwerten. Es fehlte ihnen zwar an nichts, doch zufrieden waren sie trotzdem nicht. Immer wollten sie mehr Wohlstand und mehr Bequemlichkeit. Bowen startete daraufhin eine simple Challenge: Alle Kirchenmitglieder bekamen ein violettes Gummiband um ihr Handgelenk. Sollten sie sich beschweren, nörgeln, lästern oder meckern, musste das Gummiband die Seite wechseln. Das Ziel war es, das Armband 21 Tage lang auf derselben Seite zu tragen, ohne es wechseln zu müssen.


Die Challenge ging so durch die Decke und die Nachfrage nach den Armbändern war so groß, dass Bowen 2007 sein erstes Buch darüber veröffentlichte. Mit dem Buch „Einwandfrei“ (Originaltitel: A Complaint Free World) hat sich Bowen das Ziel gesetzt, nicht nur seine Gemeinde, sondern die ganze Welt zunehmend glücklicher und klagefreier zu machen. In seinem Buch schreibt der Pfarrer unter anderem: „Menschen wie Sie und ich haben mir Geschichten erzählt, wie sie von chronischen Schmerzen befreit wurden, wie Beziehungen heilten, Karrieren sich zum Besseren entwickelte und sie zu einem rundum glücklicheren Menschen wurden.“

Teilweise wechseln die Armbänder so oft die Seite, dass sie reißen. In diesem Fall wird einem kostenlos ein neues zugesandt.

Der Versuch

Simone Kuhrt hat sich gemeinsam mit ihrem Mann an der Challenge versucht. „Ich habe keinen einzigen Tag geschafft“, berichtet sie. Die größte Schwierigkeit sei für sie gewesen, dass sie und ihr Mann sich gegenseitig beim Meckern erwischt und das dann angeprangert hatten. Da sich derjenige, der dem anderen seinen Fehler aufweist, allerdings auch beschwert und sich damit über den anderen stellt, mussten daraufhin beide Armbänder die Seite wechseln.

Obwohl die selbstständige Geschäftsfrau die Challenge nicht geschafft hat, hat sie trotzdem viel daraus gelernt: „Vor allem ist mir dabei bewusst geworden, dass ich mich mehr beschwere, als ich dachte.“ Dadurch habe sie auch mehr Verständnis für andere Meckerer, die es vielleicht nicht so wollen, aber genau wie sie selbst in ihren Mustern festhängen, erzählt sie weiter. Die Challenge ist Teil ihres Detox-Programms. Den Teilnehmern des Programms ging es wie ihr: Sie waren geschockt über das eigene Meckerverhalten. Weiter schildert sie: „Jeder denkt erst über sich selbst, dass er nicht zu denen gehört, die ständig meckern und sich beschweren. Wenn die Teilnehmer damit anfangen, ist es für die meisten zunächst schockierend, wie oft sie über das Leben und die eigenen Umstände klagen.“ Einen weiteren interessanten Effekt in der Challenge sieht sie vor allem darin, herauszufinden, wie die Alternative aussieht. „Es geht ja nicht darum, alles zu akzeptieren. Wo ist der eigene Mittelweg, wie lebt man seine innere Haltung?“

Das Beschwerdespiel

Joachim Schaffer-Suchomel untersucht das Phänomen der Beschwerde in seinem Buch „Du bist, was du sagst“ aus psychologischer Sicht und erklärt dabei ein Beschwerdespiel. Bei diesem traurigen Spiel wird versucht, belastende Gefühle loszuwerden, um sich selbst zu entlasten. Im (Schuld)-Vorwurf – Psychologen sprechen hier auch von Projektion – wird Ballast auf andere abgeworfen, nämlich auf die, über die wir uns beklagen und beschweren. Nur wird das derjenige, auf dem der Ballast gelandet ist, nicht lange auf sich sitzen lassen und seinerseits zurückwerfen.

Schon sind wir mittendrin im Beschwerdespiel, welches dann wie eine Schiffschaukel funktioniert. Mal ist man oben, mal unten, und das im stetigen Wechsel. Die Last macht müde und träge, genau wie das Beschwerdespiel. Das Resultat sind Trägheit und Faulheit.

Das "Spiel" über das Beschweren als Modell.


In seinem Buch beschreibt Schaffer-Suchomel eine gut nachvollziehbare Situation: Du findest zum Beispiel deine Autoschlüssel nicht mehr. Plötzlich fehlt also etwas Wichtiges. Ein Loch entsteht. Du fällst hinein. Du und deine Energie sind im Keller. An diesem Ort willst du keine Sekunde verweilen. Außerdem fühlst du dich unschuldig an der Situation. Also versuchst du, den wirklich Schuldigen auszumachen, um einen Stellvertreter für dich in den Keller zu schicken. Und wer könnte sich als Stellvertreter eignen? Natürlich dein Partner! „Du bist als Letzter gefahren!“ Und wenn dein Partner nicht da ist, dann müssen die Kinder herhalten. Die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, ist ziemlich groß. Meistens ist wahllos schuld, wer einem am nächsten steht oder eben greifbar ist.

Die Akzeptanz des So-Seins

„In der heutigen Zeit bietet unsere Kultur vieles an, was dem Menschen suggeriert, dass Glücklich-Sein durch immer größere Bequemlichkeit erreicht wird. Alles ist sofort verfügbar, alles muss schnell und ohne Aufwand geschehen, jedes Bedürfnis soll sofort erfüllt werden. So aber setzt sich ein Mechanismus in Gang, der viel eher zu Unruhe und Unzufriedenheit führt, weil es einfach nicht der Natur des Lebens entspricht, immer alles sofort zu bekommen“, schreibt der Schriftsteller Christian Dittrich-Opitz in seinem Blog.

Wenn wir uns beschweren, würden wir den Anspruch darauf erheben, dass unsere Bedürfnisse und unsere Vorstellungen davon, wie eine Situation zu sein hat, das Wichtigste seien, erklärt Opitz. So werden Gartenpartys, die aufgrund von Regen nicht stattfinden können, zu einem riesigen Problem aufgebauscht. Denn das Wetter nimmt sich einfach heraus, unsere Pläne zu durchkreuzen. „Sich nicht mehr zu beschweren, suggeriert mir, dass ich viel Kraft habe, sodass eventuelle Herausforderungen oder die Tatsache, dass das Universum sich nicht ausschließlich damit beschäftigt, mich glücklich zu machen, keine Gründe sind, mich zu beschweren“, ist Dittrich-Opitz überzeugt.

Erstlingswerk

Dieser Beitrag ist Bestandteil der Kooperation von radius/30 mit dem 2. Semester des Journalismus-Studiengangs der Hochschule Hannover unter Leitung von Prof. Stefan Heijnk, der freien Journalistin Sonja Steiner, Programmierer René Aye von Pyropixel und dem DJV Niedersachsen.

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