Wer überleben will, muss hamstern!

15. Juli 2020 / Erstlingswerk

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Credit: Brigita Demirkiran

Ach, was für ein tolles Jahr: 2020 begann mit Bränden, Flugzeugabstürzen und politischen Konflikten. Was hätte da noch Schlimmeres kommen können? Stimmt, eine Pandemie. Die Corona-Pandemie 2020 tötete nicht nur Tausende von Menschen, sondern versetzte Deutschland in den Hamsterkrieg. Um zu überleben, hatte jeder Soldat nur ein Ziel: hamstern.

„Aufstehen, Rekruten!“ Erschrocken sprang ich aus meinem Feldbett. Ein weiterer Tag in der Corona-Pandemie hatte begonnen. Zusammen mit den anderen Soldaten schmierte ich mir meine tägliche Kriegsbemalung ins Gesicht und setzte meine Maske auf. Wir stellten uns im Gang in einer Reihe auf. Der General ging die Reihe entlang und überprüfte, ob die FFP3-Maske auch bei jedem richtig saß. Unsere Soldaten standen bereit, um in die Schlacht im westlichen Drogeriemarkt zu ziehen. Denn dort wurde 5-lagiges Premiumtoilettenpapier gesichtet. „Nimmt alles mit, was ihr findet“, befahl uns der Obergeneral. „Habt ihr alles verstanden? Los, Soldaten!“ Alle zehn Soldaten marschierten Richtung Westen los.

Hamster-Missionen waren unberechenbar

Der Weg vom Stützpunkt zum Drogeriemarkt war ruhig – zu ruhig. Aus der Ferne beobachteten wir die Lage im westlichen Drogeriemarkt. Dort herrschte ein einziges Massaker. Zwei gegnerische Truppen kämpften um die letzten Vorräte. Die Schlacht war laut und blutig. „Wir sind wohl nicht die Einzigen, die vom Toilettenpapier gehört haben“, nuschelte der studierte Erste-Offizier. „Es ist zu gefährlich, sich in die Schlacht einzumischen. Wir müssen umkehren“, befahl er uns. Enttäuscht zogen wir uns zurück.   

„Heutzutage kann man den Freund vom Feind nicht mehr unterscheiden“

Auf dem Weg zurück zum Stützpunkt entdeckten wir einen offenstehenden Van. Der Wagen war voll mit Vorräten an Nudeln, Tomatensoßen und Masken, soweit das Auge reichte. Unsere Augen strahlten. Die Hoffnung wurde wieder geweckt. Wir schauten uns um und konnten einige Meter weiter eine Familie erspähen. Eine Mutter mit zwei Kindern und ein alter Mann im Rollstuhl. Sie schienen abgelenkt zu sein, weil der Rollstuhl wohl im Schlamm feststeckte. Zügig schmiedeten wir einen Plan. „Soldat Eins, Zwei und Drei lenken die Familie weiter ab. Der Rest steigt mit mir ins Auto und fährt mit mir zurück zum Stützpunkt. Ihr drei kommt dann zu Fuß nach“, erklärte der Erste-Offizier. „Aber, General, das ist eine harmlose Familie“, wandte unser Neuling ein. „Keine Widerrede! Heutzutage kann man den Freund vom Feind nicht mehr unterscheiden.“ Der Angriff startete. Die drei Rekruten lenkten die Familie ab, indem sie ihnen halfen, den Rollstuhl aus dem Schlamm zu ziehen. Die übrigen Kameraden und ich stiegen schnell ins Auto und fuhren davon. Aus dem Fenster sah ich, wie die Familie uns laufend hinterherschrie und fassungslos zurückblieb.

Wir jubelten, was das Zeug hielt. Nur der Neuling schien etwas traurig zu sein. „Mach dir keinen Kopf, Kleiner. Du musst dich an sowas gewöhnen“, tröstete ihn ein Kamerad. Am Stützpunkt angekommen, konnten wir unser Glück immer noch kaum fassen. Wir hatten Vorräte für Dutzende Jahre und hätten die Basis nie wieder verlassen müssen. Am Abend kehrten unsere drei Männer unversehrt zurück.

Freude wurde zu Trauer

In dieser Nacht feierten wir bis zum Morgengrauen. Die nächsten Monate aßen wir uns täglich mit Nudeln und Tomatensoße satt. Freudig wischten wir unsere Fäkalien am Hintern mit Premiumtoilettenpapier ab. Wir hatten In dieser Nacht feierten wir bis zum Morgengrauen. Die nächsten Monate aßen wir uns täglich mit Nudeln und Tomatensoße satt. Freudig wischten wir uns den Hintern mit Premiumtoilettenpapier ab. Wir hatten so viel Klopapier, dass wir daraus eine Schutzmauer vor unserem Stützpunkt errichteten. Wir nutzten unsere Masken als trendy Modeaccessoires und veranstalteten in unserer Basis eine wöchentliche Modenschau. Unsere Hände waren schon ganz wund vor lauter Desinfektionsmittel. Wir mussten unseren Stützpunkt nie wieder verlassen und lebten wie Könige mit unserer Beute.

Eines Morgens wachte ich in meinem Feldbett auf und hörte die überraschende Nachricht: Unser Feind, Covid-19, wurde mit einer Impfwaffe besiegt. Nach all den Monaten durften wir endlich wieder ohne jeglichen Schutz ans Tageslicht treten. Doch nur wenige Menschen hatten diese Pandemie überlebt. Die meisten Menschen starben jedoch nicht am Virus, sondern am Hunger. All das Essen hatten wir gebunkert. Die Freude wurde zu Trauer. Wir waren für den Tod dieser Menschen verantwortlich. Bei unseren Hamster-Missionen nahmen wir den Schwachen und Alten alles weg. Auf unser eigenes Überleben konzentriert, hatten wir alle anderen Menschen vergessen.

Von Brigita Demirkiran

Erstlingswerk

Dieser Beitrag ist Bestandteil der Kooperation von radius/30 mit dem 2. Semester des Journalismus-Studiengangs der Hochschule Hannover unter Leitung von Prof. Stefan Heijnk, der freien Journalistin Sonja Steiner, Programmierer René Aye von Pyropixel und dem DJV Niedersachsen.

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