Barrieren sind dazu da, überwunden zu werden, auch wenn sie dazu wahrlich nicht immer einladen. radius/30 hat drei Personen getroffen, die auf ganz unterschiedliche Weise Barrieren überwinden. Der stark sehbehinderte Fotograf Guido Klumpe ist preisgekrönt, die gehörlose Psychologin Pia-Céline Delfau vermittelt bei ihrer Arbeit als Hundetrainerin zwischen Mensch und Hund und Rollstuhl-Basketballer Jan Haller überwindet mit seinem Team Hannover United in der Bundesliga erfolgreich gegnerische Teams und die Distanz zum Korb.
Klare Kanten und oft knallbunte Flächen, kein Vorder- oder Hintergrund: Die aktuellen Fotografien von Guido Klumpe sind plakativ und gleichzeitig rätselhaft. Die Dreidimensionalität des Raumes verschwindet in seinen minimalistischen Bildern, Vorder- und Hintergrund gehen ineinander über, die Optik verwirrt. Der 49-jährige Hannoveraner mit starker Sehbehinderung kam als Jugendlicher zufällig zur Fotografie. Als sportbegeisterter Teenager fand er darin eine neue Möglichkeit, die Welt zu betrachten und vergängliche Momente festzuhalten.
Wie ein Video mit geringer Datenübertragung
25 Prozent Sehkraft hat er auf einem Auge mit starker Kontaktlinse, auf dem anderen ist er blind. Räumlich sehen konnte er nie, einen Führerschein darf er nicht erwerben, aber vom Rennradfahren als Halbstarker hielt es ihn nicht ab. Am besten erkennt er einzelne Objekte. Detailreiches, etwa eine Menschenmenge, verschwimmt vor seinem Auge zu einem optischen Brei, ähnlich wie bei einem Videostream mit geringer Datenübertragung.
Fotografische Entwicklung
Zu seinen ersten eigenen Motiven wurden „Lost Places“, verlassene Orte, deren Äußeres durch den Verfall ein Hauch von Mystik überzieht. Wenn man den richtigen Blick hat. Und die richtige Kamera-Einstellung beherrscht. Nach dem Abitur reist er durch Südasien und entdeckt die Straßenfotografie für sich. Er dokumentiert zufällige Szenen und ist begeistert von der Aussagekraft der Bilder. Auch sein innigster Wunsch manifestiert sich: eine Ausbildung oder ein Studium im Bereich der Fotografie. Doch zu Hause bremst deutscher Pragmatismus ihn aus: Berater empfehlen ihm, dem kreativen Geist, Sozialpädagogik zu studieren. Wegen der besseren beruflichen Möglichkeiten. Vielleicht ist das ein Mangel an kreativem Geist – kann ein Sehbehinderter nicht mit visueller Kunst sein Brot verdienen?
Klumpe wird tatsächlich Sozialpädagoge und arbeitet in einer Opfer-Beratungsstelle. Nach Jahren stolpert er im TV über eine Dokumentation über amerikanische Fotografie-Ikonen und ihre Straßenmotive. Seine Leidenschaft flammt wieder auf, er schnappt sich die Kamera und zieht durch die Stadt. Er wird Teil des Künstlerkollektivs „Unposed Society Hannover“, Straßenfotografie, ausschließlich ungestellte Szenen. Inzwischen hat der Hannoveraner bereits mehrere Ausstellungen realisiert und Fotografie-Preise gewonnen.
Gespür für den Moment
„Ich bin kein schneller Fotograf“, beschreibt Guido Klumpe seine Technik. „Ich baue mir eine Art Bühne und warte auf den richtigen Moment.“ Er bewegt sich auf der Suche nach Motiven selbstständig durch den Straßenraum, schnelle, kuriose Motive entgehen ihm allerdings. Er entdeckt dafür andere: Vor einem markanten Hintergrund lauert er auf Passanten, die mit dem Hintergrund verschmelzen, weil ihre Kleidung die gleiche Farbe oder das gleiche Muster hat. Oder eine Spiegelung in einem Fenster und das halbtransparente Dahinter werden zu einer kleinen, in sich abgeschlossenen Geschichte. Und manchmal ist es ein winziger Ausschnitt aus dem ganzen Straßenzug, der Klumpes Aufmerksamkeit gewinnt. Er hat wortwörtlich ein ausgezeichnetes Gespür für den richtigen Moment, seine ungestellten Motive verblüffen.
Sehr viel Aufmerksamkeit bekommt Klumpe für seine fixierten vergänglichen Momente im Internet, auf der eigenen Website und vor allem von zahlreichen Followern auf Instagram. Für das Jahr 2021 hat er einen bereits vergriffenen Kunstkalender herausgegeben, Hannover Minimal. Für Liebhaber bietet er einzelne Motive, zum Beispiel aus dem eigenen Stadtteil, zum Kauf an.
Text: Carmen Eickhoff, Bilder: Carmen Eickhoff und Guido Klumpe