Nähe und Distanz – Beziehung in der Krise

25. Juni 2020 / Erstlingswerk

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Existenzangst und ungewohnte Enge – Sorgen, die auf den Schultern Unzähliger lasten. Wie wirkt sich die Krise auf Beziehungen in der Familie, der Partnerschaft und zwischen Unbekannten aus?

Von Lynn Pinders

Zwingende Nähe in der Hausgemeinschaft, ungewollte Distanz zu jeglichen sozialen Kontakten außerhalb der vier Wände: „Unsere „natürliche“ Lebensform wird durch die Pandemie eingeschränkt“, urteilt Sozialpsychologe Prof. Dr. Immo Fritsche. Denn ob wir uns sozial eingebunden fühlen, bestimme auch, wie gut die Menschen mit Krisensituationen umgehen und sich von ihnen erholen können. Die Wahrnehmung sei also ausschlaggebend dafür, ob der Mensch sich zugehörig fühlt oder nicht: „Physische Kontakte zeigen nicht unbedingt, ob ich ein wichtiger Teil der Gesellschaft oder der Hausgemeinschaft bin“, es komme eher auf Zusammenhalt und Solidarität in der Gemeinschaft an.

Dazu gehöre auch die Verlässlichkeit auf Hilfe vom Nachbarn, wenn das Haus nebenan Einkäufe benötigt. War vor den Einschränkungen eine gute Zugehörigkeit gegeben, sei es kein Problem in der Corona-Krise, mit räumlicher Isolation klarzukommen. Doch was ist mit den Menschen, die sich schon vor der Pandemie als sozial ausgeschlossen wahrgenommen haben? „Auf diese Personen sollten wir im Alltag ein Auge haben. Öffentliche Fürsorge- und Beratungssysteme sind hier enorm wichtig“, betont Fritsche. Und das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim warnt vor ernsthaften Symptomen durch soziale Isolierung. Es können Angststörungen und depressive Symptome daraus hervorgehen. Aber auch körperliche Beschwerden resultierten aus einer langfristigen Isolierung von sozialen Kontakten.

Ist Corona für Beziehungen Last oder Segen?

Dass Trennungen in Partnerschaften durch die aktuellen Umstände begünstigt werden können, erklärt Paarberater Martin Jurock. Es komme immer darauf an, in welcher Verfassung die Beziehung vor der Krise war. „Wenn man im Vorfeld bereits auf eine Trennung zusteuerte, führt die lange gemeinsame Zeit die Defizite deutlich vor Augen“, sagt der Paartherapeut. Paare, die jedoch ihre Beziehung als harmonisch wahrnehmen, blicken der gemeinsamen Zeit mit Freude entgegen. Die Krise könne in dem Falle dann festigend auf die Beziehung einwirken. Jurock rät, sich über die eigene Belastung auszutauschen und gegenüber anderen und sich selbst auch mal Nachsicht zu üben. Gerade in Familien helfen meist gemeinsame Projekte, wie Mundschutz-Basteln oder die Wohnung umzugestalten. Der Austausch dabei mit anderen übers Telefon oder andere Kanäle außerhalb der Familie sei besonders wichtig.

Der Mensch ist verunsichert, weil er aufgefordert ist, sich möglichst nicht zu nahe zu kommen. Das ist was, was wir kulturell nicht können.

Prof. Dr. Ulrich Wagner, Sozialpsychologe

Komplett abgeschottet von jeglichen persönlichen Beziehungen sind Senioren in den Altenheimen. Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner spricht hier von einer annähernden „Einzelhaft“. Senioren sehnen sich nach Austausch und den Familienangehörigen. Da müsse dringend etwas passieren, verstärkt der Sozialpsychologe. Diese Verzweiflung ist auch bei der Berliner Seniorenhotline Silbernetz zutage gekommen: Sie registrierte viel mehr Anrufe als vor der Pandemie. An einzelnen Tagen wollten fünfmal mehr Menschen reden als vorher. Initiatorin Elke Schilling spricht von mehr „fitten und jüngeren Senioren und vor allem mehr Männern als zuvor“. Hauptthemen seien die Ungewissheit der weiteren Entwicklung und die Angst, sich selbst zu infizieren.

Solidarisierung durch Not

Wagner spricht jedoch auch von der positiven Kehrseite, der Solidarisierung durch die Not. Zum Beispiel aufseiten der Nachbarschaft seien positive Entwicklungen zu erkennen: „Es sind Menschen aufeinander zugegangen und haben sich gegenseitig Hilfe angeboten. Die Frage ist nur, ob sich das auch nach der Krise so fortführt“, sagt Wagner. Der Sozialpsychologe ist jedoch davon überzeugt, dass diese positiven Aspekte von den negativen Langzeitfolgen der Krise überdeckt werden. Denn wenn Gesellschaften in ökonomische Not geraten, werde Fremdenfeindlichkeit besonders gefördert.

„Die ökonomischen Folgen der Krise und die Konsequenzen für den Einzelnen machen mir Sorgen“ – Prof. Dr. Ulrich Wagner, Sozialpsychologe
Wagner mit seiner Einschätzung zur Zukunft nach Corona.

Erhöhte Sensibilität für das Tun anderer Menschen

Nicht nur die Beziehungen im Haushalt sind spannungsreicher geworden, auch der Kontakt im öffentlichen Raum hat sich verändert. Hat das mit der Angst vor Ansteckung zu tun? „Nicht zwingend“, erklärt Wagner. „Es hat eher mit einer erhöhten Sensibilität zu tun, für das, was andere Menschen tun. Wir sitzen alle in einem Boot“. Denn was eine andere Person versäumt, betreffe alle anderen auch. Die Konsequenz aus einem „Regelverstoß“ einer einzelnen Person werde folglich zu einer Konsequenz für alle anderen. Die Menschen haben am meisten Angst vor einen erneuten Lockdown mit strengeren Einschränkungen. Gleichzeitig rät Wagner jedoch, sich nicht ständig mit jeder Kleinigkeit zu überwachen, denn das führe wieder zu Streitigkeiten und Spannungen zwischen den Beteiligten.

Gewalt gegen Frauen und Kinder als Folge?

Durch derartige Frustrationen, wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder Überforderung mit der Dauerbetreuung der Kinder, führt die Corona-Krise zu deutlich häufigeren Konflikten in den Familien. „Ungewohnte Enge, Ausgangssperren und finanzielle Existenzängste können Streit in den Familien eskalieren lassen“, bestätigt auch die Bundespsychotherapeutenkammer. In manchen Fällen führe das zu vermehrter Gewalt gegen Frauen und Kinder. Dies bestätigen Erfahrungen aus anderen Ländern. Durch die Ausgangssperre in Frankreich gibt es 32 Prozent mehr Fälle als üblich von häuslicher Gewalt zu verzeichnen. Entgegen der Erwartungen von Experten ist jedoch die Anzahl gemeldeter Fälle von häuslicher Gewalt in Deutschland durchschnittlich geblieben. Die Bremer Landesbeauftragte für Frauen, Bettina Wilhelm, vermutet, dass die Frauen und Kinder sich weniger Hilfe holen, weil es ihnen nicht gelingt, unter der Kontrolle des Gewalttäters anzurufen. „Und es fällt ein kompletter Meldeweg, wie die Schule oder der Kindergarten, weg“, bedauert Wilhelm.

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Erstlingswerk

Dieser Beitrag ist Bestandteil der Kooperation von radius/30 mit dem 2. Semester des Journalismus-Studiengangs der Hochschule Hannover unter Leitung von Prof. Stefan Heijnk, der freien Journalistin Sonja Steiner, Programmierer René Aye von Pyropixel und dem DJV Niedersachsen.

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